Eine Reise um die Welt mit den Priesterinnen der Vesta

Auf der Suche nach Lesestoff in der drögen Corona-Zeit griff ich auf einen Schmöker zurück, den ich mir schon vor längerer Zeit beschafft hatte:

24 Amerikanerinnen umsegeln die Welt in einem Segelschiff, das nach ihrem eigenen Plan erbaut wurde — sie wollen der Welt beweisen, dass Frauen dieselben Fähigkeiten wie Männer haben, und so stechen sie in New York in See. Die Zeitungen berichten:

"Weiter erfuhren wir, daß die Damen auf jenem neuen Segelschiffe eine Reise um die Erde zu unternehmen gedenken, und zwar als Matrosen, ohne Dienerinnen mitzunehmen oder männliche Hülfe sich zu sichern. Erst gestern wurde das Schiff mit großer Feierlichkeit von Miß Petersen auf den Namen ›Vesta‹ getauft. Die Ladies selbst nennen sich ›Vestalinnen‹. Leider wird jedem Mann ohne Ausnahme der Zutritt zum Schiff verweigert, sodaß wir über die innere Einrichtung desselben keine Auskunft geben können; doch soll sie, so weit man unter solchen Umständen darüber urteilen kann, großartig sein. Wann das Schiff mit seiner weiblichen Besatzung in See stechen soll, ist vorläufig noch völlig unbekannt."

Als man in England davon erfährt, macht sich eine ähnlich große Zahl adliger Herren, die nicht glauben wollen, dass diese Weltumseglung gelingen könnte, und die die Damen beschützen wollen, auf einem eigenen Schiff auf, der „Vesta“ Geleitschutz zu geben bei ihrer waghalsigen Fahrt.

Das, was sich vielleicht wie ein Drehbuch zu einem Frauenpower-Film anhören mag, ist die Exposition des Romans Die Vesalinnen von Robert Kraft, erstmals veröffentlicht 1895. Der Autor nimmt uns auf „Eine Reise um die Erde. Abenteuer zu Wasser und zu Lande“ mit, und das auf tatsächlich dreieinhalbtausend Seiten. Die Route geht von New York nach Europa, ins Mittelmeer, Indien, Ozeanien, Australien, Afrika, Südamerika, den Wilden Westen und schließlich zurück in die Heimat. 1895 erschien der Text als Lieferungsroman in der Kolportagefabrik Münchmeyer, 1903 wurde er in fünf Bänden neu veröffentlicht.

Bevor ich auf den Roman eingehe, will ich kurz innehalten: Wer war Robert Kraft, und was zum Geier ist ein Lieferungsroman?

Robert Kraft (1869-1916) war für ein bürgerliches Leben, wie es seine Eltern von ihm erwarteten, nicht geschaffen. Er flog vom Gymnasium, mit 20 Jahren wurde er inhaftiert, weil er seinem Vater Geld gestohlen hatte, und dann wollte er nur noch fort und heuerte auf einem Schiff in Hamburg an. Nach wilden und abenteuerlichen Jahren mit Schiffbruch vor Grönland, Cholera-Infektion, Aufenthalten in der ägyptischen Wüste und vielerlei mehr siedelte er sich in London an mit Frau und Kindern, und begann für den Verlag Münchmeyer (Dresden) Lieferungs- bzw. Kolportageromane zu schreiben. Lange war er von der Literaturgeschichte erfolgreich verdrängt, aber es scheint sich nun eine Fangemeinde zu sammeln.

Lieferungsromane kamen in Lieferungen, d.h. in Einzelheften an KundInnen, die ein Abonnement abgeschlossen hatten. Der Autor hatte monatlich ein tüchtiges Pensum zu schreiben, der Text wurde ohne Lektorat oder ähnlichen Aufwand gesetzt, gedruckt und ausgeliefert, damit die AbonnentInnen mit Spannung und Romantik versorgt werden konnten. War ein Roman nicht erfolgreich und AbonnentInnen sprangen ab, dann wurde er auch schon einmal vorzeitig abgebrochen — so wie eine Daily Soap auch ohne Einschaltquote nicht laufen kann. Münchmeyers Kolportagefabrik ist heute bekannt dafür, dass sie die Schriftsteller wie Sklaven ausgesaugt hat — es heißt, Karl May, der auch seine besten Jahre an diesen Verlag vergeudet hat, habe später Münchmeyer als Slavenhändler in einem seiner Romane karikiert.

Wer sich daran wagt, die Vestalinnen zu lesen, der sollte all das im Kopf behalten. Hier schreibt ein Autor, der sich in etwa eine Skizze gemacht hat über den groben Romanverlauf, der aber an keiner Stelle wusste, wohin sein Roman konkret laufen würde. Wenn Kraft im Lieferung 57 merkte, dass er sich verrannt hatte, konnte er den Text aus Lieferung 15 nicht mehr ändern, denn der war schon ausgeliefert und gelesen.

Zunächst ist es wirklich bemerkenswert, dass Kraft eine Frauentruppe zu den hervorragenden Heldinnen des Romans macht. Die Vestalinnen, 24 reiche Amerikanerinnen, haben gemeinsam, dass sie keine nähere Verwandtschaft haben, die sie an dieser Abenteuerfahrt hindern könnte. Sie können vorzüglich segeln, tragen männliche Matrosenanzüge, und für alle Fälle ist ihr Schiff mit Kanonen ausgerüstet, und beim Landgang trägt jede einen Revolver am Leibe — und sie wissen damit umzugehen. Sie treten einer männlichen Welt entgegen: Da sind viele Feinde, die daran Interesse haben, dass die Vestalinnen ihr Ziel nie erreichen, und die vielerlei Anschläge auf sie verüben — immer wieder müssen die Damen sich gegen Entführungsversuche und Piratenangriffe zur Wehr setzen. Aber es sind auch die Freunde, die englischen Herren, die erst im Laufe der Zeit lernen müssen, dass die Vestalinnen nicht so schutzbedürftig sind, wie sie annehmen.

Es ist — soviel sei einschränkend gesagt — kein feministischer Roman, denn das Geschehen steuert von Anfang an auf eine Massenhochzeit zu, und so mancher englische Lord macht am Ende sein Glück mit einer Amerikanerin. Dennoch ist es faszinierend, wie ein männlicher Autor am Ende des 19. Jahrhunderts Frauen nicht nur zu Heldinnen macht, sondern auch eine größere Palette an Frauencharakteren zur Identifikation anbietet. Angefangen bei der herrischen und stolzen Ellen Petersen, die der demokratisch organisierten Besatzung als Kapitänin vorsteht, über die immer zu einem Spaß aufgelegten Miss Thomson bis zur mysteriösen Miss Lind zeigt Kraft, dass auch emanzipierte Frauen im Roman nicht Klischee sein müssen. Die Männer, die englischen Herren, gewinnen erst im Laufe der Erzählung ihr jeweils eigenes Profil.

Abgesehen von der spannenden Erzählung gibt es auch mancherlei zu lernen. Kraft beweist, dass er zur See gefahren ist, denn er weiß viele Details zum Leben auf Segelschiffen und zum Leben der Matrosen, die er immer wieder nebenbei oder in kleinen Exkursen zum Besten gibt. Auch einige historische Zusammenhänge waren mir neu — so hatte ich noch nie darüber nachgedacht, dass die Bevölkerung von Texas (erst 1845 an die USA gefallen) im 19. Jahrhundert zu großen Teilen spanischsprachig gewesen ist. Das gibt den heutigen Diskussionen über eine Latinisierung der USA noch einmal eine andere Perspektive. In einer Episode gehen die Vestalinnen auf Walfang, und die LeserInnen bekommen eine genaue Beschreibung, wie das im 19. Jahrhundert vor sich ging.

Allerdings muss man des öfteren auch einmal ein Auge zudrücken, was die Sachkenntnisse angeht: Die fremden Länder und Völker sind zumeist bloße Kulisse: Die Indianer in Südamerika leben auf der Prärie und unterscheiden sich kein Stück von denen im Wilden Westen, und in Texas scheint es Regenwald zu geben, sogar mit blutrünstigen Apachen darin.

Zu einem Abenteuerroman aus dieser Zeit gehört, das darf nicht verschwiegen werden, auch die Triggerwarnung. LeserInnen der Vestalinnen bekommen eine spannende Geschichte geliefert, aber auch einen tiefen Einblick in das weiße europäische Weltbild der damaligen Zeit. Die Welt ist natürlich in Rassen unterteilt, und Charakterzüge der Rassen und Hautfarben stehen felsenfest. So lesen wir bei der Vorbereitung einer Karawane, mit der die Heldinnen und Helden ins afrikanische Binnenland ziehen wollen:

"Da gab es kein Schimpfen, kein Schelten, höchstens einmal, daß einer der Herren aus Spaß einem Schwarzen mit der Eselspeitsche, einem sehr probaten Mittel gegen die Widerspenstigkeit und Faulheit der Neger, ein paar Schläge über den Rücken zog, sonst war alles Frohsinn und Heiterkeit."

Da wird ganz selbstverständlich immer wieder vom „Stumpfsinn“ der Schwarzen geredet, die sowohl Peitschenhiebe als auch den Tod von geliebten Menschen leichter verdauen könnten als weiße Menschen. Es finden sich zwar auch Gegenreden, in denen Figuren im Roman argumentieren, dass auch Schwarze Gefühle hätten — aber an einer Stelle gleitet die Diskussion sofort zu der Frage hin, ob denn auch Tiere Gefühle hätten!

Auffällig wird es an der Stelle, an der sich das Rassenthema mit dem Thema der Frauenemanzipation kreuzt. Die Vestalinnen erobern ein Piratenschiff und befreien gefangene Mädchen, die als Sklavinnen verkauft werden sollten. Eine schön eingeflochtene Seitenhandlung des Romans beschäftigt sich dann damit, wie die Vestalinnen nicht nur ihre Weltumseglung absolvieren, sondern auch die Mädchen, die aus aller Welt stammen, in ihre jeweilige Heimat bringen. Die befreiten Mädchen erscheinen als hilflose Opfer. Die aus der Gewalt der Piraten befreite Afrikanerin spielt jedoch eine Sonderrolle: Sie ist eine wahrhaftige Amazone, sie kann auch alleine gegen ihre Peiniger kämpfen und trägt in ihren „wilden“ Haaren einen Dolch verborgen.

Als die Vestalinnen und die Engländer auch die Afrikanerin nach Hause bringen, werden sie in einen großen politischen Konflikt am Hofe des dortigen Königs verwickelt. Einer der Engländer, Marquis Chaushilm, geht verloren und eine Afrikanerin namens Kasegora rettet ihm das Leben, schleppt den schmächtigen Mann in ihre Hütte und heiratet ihn kurzerhand. Als ihm klar wird, was ihm geschehen ist, richtet er sich ein:

"Je öfter ihn das Mädchen umschlang und ihn an ihren Busen drückte, je öfter ihre vollen Lippen die seinen berührten, umsomehr mußte sich der Marquis gestehen, daß Kasegora, um in seiner Sprache zu reden, ›gar kein so unrechtes Mädel wäre‹, als Schwarze wenigstens nicht. Hätte dieselbe Figur mit den kräftigen Gliedern, den Muskeln und den wilden Zügen, den funkelnden Augen, eine weiße Haut gehabt, so hätte er einen Widerwillen gegen sie empfunden, aber so …"

Modern gesagt: Es geschieht ein regelrechter Genderwechsel: Der feminin gezeichnete weiße Chaushilm wird zur maskulin gezeichneten schwarzen Kasegora kompatibel!

Wie die Geschichte von Chaushilm und seiner neuen Frau weiterhin verläuft, soll hier nicht verraten werden. Nur zum rassentheoretischen Gehalt: schwarze Frauen erscheinen kontinuierlich „unweiblich“ (nach dem Maßstab, mit dem man sich Weiblichkeit in Europa damals vorstellte) und bilden im Roman einen Gegensatz zu den Frauen aller anderer Hautfarben. Das zeigen auch die Illustrationen.

Damit will ich es mit der Warnung bewenden lassen. Wer Schwierigkeiten hat, mit Texten umzugehen, die historisch bedingte rassistische Gehalte aufweisen, sollte von den Vestalinnen die Finger lassen. Für mich war es sehr lehrreich, gerade auch „gut gemeinten“ Rassismus in solcher Fülle zu erkennen und beim Lesen zu reflektieren.

Schwächen hat der Roman vielerlei, sie sind genrebedingt. Zum Ende von Band 4 geht es zielstrebig auf das große Finale zu, leider war aber die Vertragslaufzeit anscheinend noch nicht zu Ende, und es musste noch ein fünfter Band geschrieben werden. Kraft greift vor allem in der letzten Phase öfters zu dem üblichen Mittel des Zeilenschindens: Durch lange Dialoge lassen sich Seiten schnell füllen, gerade dann, wenn man nicht mehr weiß, was man erzählen soll. Dennoch gelingt es ihm immer wieder, die Spannung hochzureißen, und es kommt ihm zupass, dass er in den ersten Bänden viele Handlungsstränge liegen hat lassen, die er alle noch zum Ende führen kann.

Die Vestalinnen sind der erste große Roman von Kraft. Es sind darin schon viele Elemente seines späteren Schaffens enthalten. Nicht nur Seefahrt und Abenteuer, auch Science-Fiction im Stil von Jules Verne und Detektivroman sind eingewoben in das große Panoptikum der „Vesta“ und des „Amor“ (wie das Schiff der Herren sprechend heißt).

Ich hatte vor den Vestalinnen schon einen anderen Roman von Robert Kraft begonnen, den weitaus bekannteren Detektiv Nobody. Ich habe damals nach den ersten Bänden die Lektüre abgebrochen, weil die Geschichte zu sprunghaft und ziellos war, und vor allem die Figur des Nobody als alles könnender, alles wissender und alles unter Kontrolle habender Akteur nicht nur unglaubwürdig war, sondern auch in meinen Augen eine sinnvolle Handlungsführung verhinderte. Der Superdetektiv Nick Sharp, der in den Vestalinnen eine zentrale Rolle spielt, zeugt zwar von Krafts Faszination für solche Figuren, bleibt aber eingehegt von den anderen Personen im Roman.

Kraft ist öfters mit Karl May verglichen worden. Die augenfälligste Verbindung ist natürlich die, dass Kraft bei Münchmeyer die Nachfolge Mays antrat, als dieser die Kolportage verließ, um bessere Literatur beim angesehenen Fehsenfeld-Verlag zu schreiben. In Spannung und Abenteuerlust sind sich die beiden ebenbürtig. Als Hauptunterschied fällt ins Auge, dass Kraft deutlich weniger Skrupel hat als der moralische Karl May, seine Helden auch unethisch und weniger moralisch handeln zu lassen. Das kann sich schauerlich auswirken — wenn der Silberkönig Hoffmann die gefangenen Piraten unter Drogen setzen und in seinem Quecksilberbergwerk arbeiten lässt, wo sie mutmaßlich über die Jahre an dem Gift zugrunde gehen — aber es kann auch lustig sein: May hätte niemals so eine beschwingt-unschuldige Bordellszene im Wilden Westen zeichnen können wie Kraft in Band 5 der Vestalinnen.

Damit denke ich, habe ich genug Werbung gemacht und gewarnt: ein Roman für den besonderen Geschmack, und wer auf Splatter, Kolportage, Herzschmerz, Action, Phantastereien und allgemein wildes Zeug steht, sollte zugreifen. Wo gibt es die Vestalinnen? Ein paar Verlage haben Neuveröffentlichungen als E-Books gemacht, aber man kann sich die Bände auch einfach herunterladen. mtravellerh aus dem MobileRead Forum hat sie mit vielerlei Hilfe aufbereitet. Wer die Scanfehler verzeiht oder sich nur einen ersten Eindruck machen möchte, kann hier zugreifen.

Band 1: https://www.mobileread.com/forums/showthread.php?t=164079
Band 2: https://www.mobileread.com/forums/showthread.php?t=164223
Band 3: https://www.mobileread.com/forums/showthread.php?t=164572
Band 4: https://www.mobileread.com/forums/showthread.php?t=167795
Band 5: https://www.mobileread.com/forums/showthread.php?t=167988