Der Brunnen der Tradition – Jesus und die Samariterin

In Eisenach gibt es am Pfingstmontag jedes Jahr einen ökumenischen Gottesdienst, der von den sechs Mitgliedsgemeinden der ACK gestaltet wird. Dieses Jahr hatte ich die Ehre, die Predigt halten zu dürfen über Johannes 4,19-26.

Liebe Gemeinde!

Sie haben sich heute wieder einladen lassen zu unserem ökumenischen Gottesdienst hier in der Georgenkirche am Pfingstmontag. Sechs volle Mitgliedsgemeinden hat unsere Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen. Wir sind alle verschieden in unseren Traditionen und arbeiten doch zusammen, heute und überhaupt in dieser Stadt das Wort Gottes und Jesus Christus zu verkünden.

Wir sind alle verschieden in unseren Traditionen, und Traditionen sind stark. Sie haben eine Wirkungsgeschichte und sie geben Kraft für Gemeinschaften. In unseren verschiedenen Kirchen sind sie Schätze, auf die wir nicht verzichten können und wollen. Gleichzeitig ziehen sie aber auch Grenzen, erklären, was möglich und was nicht möglich ist, und sie haben auch die Kraft zur Ausgrenzung. In Wernigerode hatte ich einen Kollegen, der war reformierter Konfession, und in seiner Kirche gab es über dem Chorraum ein goldenes Banner mit großen leuchtenden Buchstaben — und da stand geschrieben: „Gottes Wort und Luthers Lehr‘, die zwei vergehen nimmermehr.“ Da war schon im Kirchraum ein klarer Rahmen gesteckt, was hier geht und was nicht. Der Reformierte hat es locker genommen — er hatte ja nichts gegen Luther, nur vielleicht hätte er ihn nicht so hoch gehängt.

Wir haben heute einen Predigttext, der ist für das Pfingstfest gedacht, aber er setzt sich auch ganz tief auseinander mit dem, was Tradition bedeutet. Es ist ein Ausschnitt aus dem Gespräch Jesus mit einer Samariterin in der Nähe des Ortes Sychar, am Jakobsbrunnen. Jesus war mit seinen Jüngern in die Gegend gekommen, zu den Samaritern. Abseits des Ortes war der Jakobsbrunnen, das war ein Brunnen, den Jakob seinem Sohn Josef geschenkt hatte. In der Geschichte ist dieser Brunnen für die Samariter ein praktischer Nutzbrunnen — sie holen dort das Wasser — aber es scheint auch ein heiliger Ort zu sein: Seit Jahrhunderten schöpfen sie aus dieser Tradition der Erzeltern, erzählen die Geschichten von Abraham und Sara, Isaak und Rebekka und von Jakob, Lea und Rahel. Nicht weit war der Berg Garizim. Die Samariter hatten dort oben einst einen Tempel gehabt, der dem Tempel in Jerusalem sehr ähnlich war. Die Samariter konnten mit dem Tempel in Jerusalem nichts anfangen, weil er in den fünf Büchern Mose nicht zu finden war. Die jüdischen Könige hatten den Tempel der Samariter lange Zeit vor Jesus zerstören lassen, weil sie sie zwingen wollten, auch nach Jerusalem zu kommen. Feindschaft war zwischen Juden und Samaritern, Verachtung und Hass — obwohl oder vielleicht gerade weil sie die dieselben religiösen Wurzeln hatten.

Und nun sitzt Jesus mit einer samaritischen Frau an diesem Brunnen und führt doch tatsächlich ein theologisches Streitgespräch. Sie haben über das Wasser des Lebens gesprochen und über vieles mehr. Jesus hat ihr gezeigt, dass er nicht nur ein einfacher Durchreisender ist. Er kennt ihr Leben und kann auf ihre Seele schauen wie ein Wahrsager, Seher oder wie ein Prophet — und das versteht die Frau. Und an dieser Stelle steigen wir ein in die Geschichte. Ich lese Ihnen aus dem vierten Kapitel des Johannesevangeliums:

Die Frau sagte zu ihm: „Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist. Unsere Väter haben auf diesem Berg Gott angebetet; ihr aber sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten muss.“

Jesus sprach zu ihr: „Glaube mir, Frau, die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. Ihr betet an, was ihr nicht kennt, wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden. Aber die Stunde kommt und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden. Gott ist Geist und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten.“

Die Frau sagte zu ihm: „Ich weiß, dass der Messias kommt, der Christus heißt. Wenn er kommt, wird er uns alles verkünden.“

Da sagte Jesus zu ihr: „Ich bin es, der mit dir spricht.“

Joh 4,19-26

Jesus spricht mit der Samariterin und ich habe gesagt, dass sie ein wahrhaft theologisches Streitgespräch führen. In manchen Auslegungen klingt es so, als ob die Frau einfach begriffsstutzig wäre, aber das ist nicht der Fall. Sie antwortet auf seine Behauptungen mit Aussagen aus ihrer Tradition. Und in diesem Gespräch höre ich, was der Sinn und was die Grenze von Traditionen ist.

Traditionen sind Arbeit.

Zuerst: Traditionen sind Ergebnis menschlicher Arbeit und ihre Erhaltung macht auch Arbeit. Jakob hat den Brunnen gegraben, und wer Wasser braucht, der muss hingehen und sich Wasser schöpfen. Das tut die Frau am Jakobsbrunnen und sie ist es gewohnt. Unsere Traditionen sind Gebäude, Gewänder, Lehrschriften, Rituale und Verhaltensweisen. Das alles gibt Kraft und Struktur, aber es muss eben immer von Generation zu Generation erhalten und weitergegeben werden. So ein schönes großes Kirchgebäude ist eine Lust, aber auch eine Last — und manche unserer Kirchen in der Ökumene tun gut daran, sich gar nicht erst mit solcher Last abzugeben.

In unserer Geschichte steht der Brunnen für die Tradition. Ein Brunnen ist von Menschen gemacht, er macht Arbeit, will gepflegt werden, er erfüllt seinen Zweck und tränkt Menschen und Tiere. Jesus stellt sich der Samariterin vor als Quelle. Eine Quelle sprudelt von selbst. Sie ist lebendig und klar.

Tradition ist trennend.

Eine zweite Eigenschaft von Tradition spricht die Frau direkt an: „Unsere Väter haben auf diesem Berg Gott angebetet; ihr aber sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten muss.“ Traditionen schaffen Unterscheidungen. Die einen gehen an diesen Ort, die anderen an einen anderen Ort und beten dort an. Die Samariter auf dem Garizim, die Juden auf dem Tempelberg in Jerusalem. In der Vergangenheit ist um diese Orte und Unterschiede erbitterter Kampf geführt worden. Immer noch ist man sich uneinig und meint, das Eigene ist das einzig Wahre.

Traditionen sind von Menschen gebaut und Menschen hängen daran. Sie ärgern sich, wenn ein anderer nicht begreifen will, welcher Wert für sie daran hängt. Manche Gemeindesäle können erst neu gestrichen werden, wenn alle tot sind, die ihn das letzte Mal renoviert haben.

Aber ganz ernst: Begreifen, was einem anderen wichtig ist und am Herzen liegt, ist ein ganz elementarer Schritt im ökumenischen Dialog. Da mag es sein, dass ich reingehe mit der Vorstellung „einen Rosenkranz beten ist plappern wie die Heiden“ und rauskomme mit „der Rosenkranz ist eine alte Form der Meditation, der Versenkung und des inneren Gebets.“

Traditionen fordern den einen Arbeit ab, sie zu erhalten, und sie fordern den andern ab, sie zu respektieren. Und dieser Respekt bringt Verständnis und Toleranz.

Traditionen haben ein Ende.

Wie antwortet Jesus nun auf diese Traditionen? Er sagt: „Glaube mir, Frau, die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. Ihr betet an, was ihr nicht kennt, wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden.“

Ist das konfessionalistisch? Meint er in der Diskussion mit der Samariterin, dass die Juden schon Recht haben, weil von ihnen das Heil kommt? Es klingt vielleicht so, aber nur, wenn ich den ersten Satz nicht beachte: Weder auf dem Garizim noch in Jerusalem wird der Vater angebetet werden. Das ist schon eine Vorausschau. Euer Tempel auf dem Garizim ist zerstört worden von uns Juden. Aber unser Tempel wird auch untergehen. Einige Jahrzehnte nach diesem Gespräch war der Tempel in Jerusalem in Schutt und Asche gelegt.

Alles, was wir hier über Traditionen reden, ist schön und gut, aber es wird ein Ende haben. Und am Ende spielt es keine Rolle mehr, wo die Menschen beten. Nicht in einem Tempel, sondern im Geist und in der Wahrheit werden sie beten.

Jesus kündigt hier mit wenigen Worten, so glaube ich, auch für uns das Ende aller Traditionen an. Es wird die Zeit kommen, da ist es egal, in welcher Kirche man ist, welche Gewänder sie da tragen und welches Gesangbuch sie benutzen.

Und jetzt ist die Reaktion der Frau zu beachten! „Die Frau sagte zu ihm: ‚Ich weiß, dass der Messias kommt, der Christus heißt. Wenn er kommt, wird er uns alles verkünden.‘ Da sagte Jesus zu ihr: ‚Ich bin es, der mit dir spricht.'“ — Und mit einem Mal lässt sie ihren Schöpfkrug stehen, läuft in den Ort und verkündet den Leuten, dass da jemand ist, der der Messias sein könnte. Anscheinend kann sie ihre Tradition ganz einfach abstreifen, den Brunnen Jakobs und den Garizim zurücklassen und überlaufen zu denen, die im Geist und in der Wahrheit anbeten wollen. Beneidenswert!

Wo stehen wir?

Wo stehen wir? Haben wir unsere heiligen Berge? Oder beten wir schon im Geist und in der Wahrheit an? Schöpfen wir aus den Brunnen der Tradition oder sind wir an der lebendigen Quelle? Sind wir bereit, so wie die Frau, den Schöpfeimer fortzuwerfen und loszulaufen?

So wie wir hier sitzen, würde ich sagen: Es ist so eine Mischkalkulation. Ich mag meinen Brunnen, den die Reformatoren einst gegraben haben, aber ich hoffe doch, dass er eine Verbindung zur lebendigen Quelle hat. Ich meine zumindest, dass das Wasser so schmeckt. Mein Garizim mit der alten Kirche ist mir lieb und wert, aber ich hoffe doch, dass ich dort im Geist und in der Wahrheit beten kann. Aber ich muss hören: Die schönen alten Traditionen haben ihre Grenze und ihr Ende. „Gottes Wort und Luthers Lehr‘, die zwei vergehen nimmermehr?“ Nein, Luthers Lehre wird vergehen, und so manches davon ist ja auch schon vergangen und das ist gut so. Und so kann jeder und jede von uns seine und ihre schönen alten Traditionen mal im Geiste durchgehen — „im Heiligen Geiste!“ durchgehen. Manches kann jetzt schon weg, und der Rest hat sein Ende, wenn unser Herr Jesus Christus kommt.

Bis dahin haben wir Zeit, die guten Traditionen zu pflegen, uns gegenseitig unsere Brunnen und Berge zu zeigen und immer darauf zu achten, dass wir alle mit dem demselben Wasser aus derselben Quelle kochen.

Amen.

Für die Auslegung des Bibeltextes bin ich Ulrike Bechmann und Joachim Kügler verpflichtet: „Die Samariterin am Brunnen. Eine Frau spricht die Wahrheit (Joh 4,1-42)“, Katholisches Bibelwerk Stuttgart 2013.

Ich habe die Predigt aus einer Laune heraus zum Ökumenischen Predigtpreis Bonn 2023 eingesendet, und die Jury hat mir mitgeteilt, dass ich zwar nichts gewonnen hätte, aber dass meine Predigt in die engere Auswahl der besten sieben Predigten gekommen sei. Man weiß natürlich nicht, wie viele Predigten da im Rennen waren – aber es ist dennoch ein Grund zur Freude.

Das Titelbild des Beitrags stammt von Josef Mafa aus einem Kunstprojekt in Kamerun. JESUS MAFA. Jesus and the Samaritan Woman, from Art in the Christian Tradition, a project of the Vanderbilt Divinity Library, Nashville, TN. https://diglib.library.vanderbilt.edu/act-imagelink.pl?RC=48282 [retrieved June 2, 2023]. Original source: http://www.librairie-emmanuel.fr (contact page: https://www.librairie-emmanuel.fr/contact).

Warum soll Maria Jesus nicht anfassen?

Noch haben wir Osterzeit, da kann ich noch ein bisschen Nachlese betreiben. In diesem Jahr war der Monatsspruch zum Osterfest der Vers 20,18 aus dem Johannesevangelium: „Maria aus Magdala geht und sagt zu den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen, und berichtet ihnen, was er gesagt hat.“ Maria Magdalena ist diejenige, die die Apostel erst zu Aposteln macht. Sie berichtet ihnen das, was sie der Welt verkünden sollen.

Ich wäre kein evangelischer Theologe, wenn ich den Satz über Maria nicht im Zusammenhang lesen wollte – und als ich das tat, kam eins zum andern:

11Maria aber stand draussen vor dem Grab und weinte. Während sie nun weinte, beugte sie sich in das Grab hinein. 12Und sie sieht zwei Engel sitzen in weissen Gewändern, einen zu Häupten und einen zu Füssen, dort, wo der Leib Jesu gelegen hatte. 13Und sie sagen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie sagt zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiss nicht, wo sie ihn hingelegt haben. 14Das sagte sie und wandte sich um, und sie sieht Jesus dastehen, weiss aber nicht, dass es Jesus ist.
15Jesus sagt zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Da sie meint, es sei der Gärtner, sagt sie zu ihm: Herr, wenn du ihn weggetragen hast, sag mir, wo du ihn hingelegt hast, und ich will ihn holen.
16Jesus sagt zu ihr: Maria! Da wendet sie sich um und sagt auf Hebräisch zu ihm: Rabbuni! Das heisst ‹Meister›. 17Jesus sagt zu ihr: Fass mich nicht an! Denn noch bin ich nicht hinaufgegangen zum Vater. Geh aber zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott. 18Maria aus Magdala geht und sagt zu den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen, und berichtet ihnen, was er ihr gesagt hat.

Übersetzung: Zürcher Bibel

Die Szene ist spannend und gleitet in der Mitte fast in Komische ab. Als Lesende werden wir zuerst Wort für Wort in die Situation hineingezogen, dann schließlich ins Grab, wo die Engel sitzen. Als der mysteriöse „Gärtner“ auftritt, wissen wir schon, dass es Jesus ist, denn Johannes schiebt uns diese entscheidende Information diskret rüber. So können wir zwischen Bangen und wissendem Lächeln beobachten, wie Maria Jesus nicht mit ihren Augen, aber mit ihren Ohren erkennt. Nicht sein Anblick, sondern seine Stimme macht ihr deutlich, dass es Jesus ist.

Das Berührungsverbot und seine Aufhebung

Zu jedem Vers könnte man viel kommentieren, aber ich bin hängengeblieben an den legendären Worten „Fass mich nicht an!“ Sie verursachen Verwunderung. Warum soll sie ihn nicht anfassen?

Der Erklärungen sind schon viele gegeben worden. Diejenigen, die in Jesus und Maria gerne ein Liebes- oder gar Ehepaar sehen wollten, haben hier immer reichlich Stoff gefunden. Wie soll Maria Jesus jetzt nicht mehr anfassen, und wie hat sie ihn denn früher angefasst?

Andere haben in neuerer Zeit anders übersetzt: „Halte mich nicht fest!“, schreibt die neue Einheitsübersetzung. Jesus kann nicht wieder wie früher bei seinen JüngerInnen bleiben, er muss zum Vater gehen, so wie er es vorher schon angekündigt hat (Joh 16,7). Es hat keinen Zweck, ihn festhalten zu wollen. Schließlich sagt Jesus als Begründung zu Maria: „Denn noch bin ich nicht hinaufgegangen zum Vater.“

Wenn man nur eine Seite weiterblättert, dann erscheint Jesus unter den Jüngern, die sich verbarrikadiert haben „aus Furcht vor den Juden“. Und bei der nächsten Erscheinung, als auch der berühmte „ungläubige Thomas“ unter ihnen ist, der nicht glauben will, dass Jesus auferstanden ist, da bietet Jesus freimütig Berührungen an!

Leg deinen Finger hierher und schau meine Hände an, und streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!

Joh 20,27

Als Jesus vor Maria erscheint und sie ihn berühren will, verbietet er es, weil er noch nicht zum Vater hinaufgegangen ist – und als er den Thomas trifft, gilt das nicht mehr.

Nun wage ich ein Gedankenexperiment. Ich stelle mir vor, Jesus ist auferstanden, heraus aus dem Grab. Die Engel setzen sich an die Stelle. Maria kommt hinzu, und sie trifft den frisch Auferweckten. Nach dieser Begegnung muss er wohl zum Vater gegangen sein, und erst dann hat er die anderen Jünger getroffen – jetzt ist nämlich das Berührungsverbot aufgehoben.

Von Null auf Hundert nach der Auferstehung?

Mathis Gothart Grünewald: Die Auferstehung am Isenheimer Altar (Wikipedia, gemeinfrei)

Die Evangelisten der Bibel halten sich ja mit Beschreibungen der eigentlichen Auferstehung weise zurück. Als die Zeuginnen ans Grab kommen, ist alles schon geschehen – das Grab ist leer. Matthäus wagt sich am weitesten vor, wenn er erzählt, wie die Wächter vor dem Grab erstarren, wenn der Stein weggerollt wird (Mt 28,2-4).

Die christliche Kunst hat diese Lücke ausgefüllt. Man betrachte nur den Auferstandenen auf dem Isenheimer Altar. Ein strahlendes Wesen erscheint voller Macht und Kraft und schwebt über dem geöffneten Grab.

Ich möchte gerne, dass, wenn großes Leid geschehen ist, die Spuren sofort wieder verschwunden sind. Ein Jesus, der sofort von Null auf Hundert fährt, wäre der deutlichste Sieg über den Tod. Das widerspricht aber der menschlichen Erfahrung.

Was ist, wenn Jesus nach der Kreuzigung noch nicht so ausgesehen hat? Wenn er noch verletzt und verletzlich war? Ein Mensch, der eine schwere Krankheit überstanden hat, vielleicht im Koma lag, verträgt es nicht, wenn alle auf ihn zustürzen und ihn umarmen wollen. Wenn ein Samenkorn aufgebrochen ist, und der frische Trieb ans Licht kommt, ist es auch nicht klug, gleich daran herumzufingern.

Ich könnte es mir vorstellen, dass Jesus, als er der Maria aus Magdala begegnet ist, noch verletzt und verletzlich gewesen ist. Genauso wie auch sie noch verletzlich und verletzt war von all dem, was geschehen ist. Sie hat ihn nicht erkannt, weil er nach der Kreuzigung und nach seinem Tod natürlich anders ausgesehen hat. Sie hat den immer noch verwundeten Jesus gesehen, den Kraftlosen. Den Jesus, der noch sagt: Leute, bleibt auf Abstand!

Quelle: Image by Famifranquoi from Pixabay

Jesus musste zum Vater gehen, um bei ihm Kraft und Energie zu tanken für die Szenen, die danach kamen: Der Besuch bei den Jüngern, das plötzliche Erscheinen im Raum, das kraftvolle Auftreten und Segnen der Jünger – auch das selbstbewusste Auftreten Thomas gegenüber. Da ist er wieder ganz der Alte.

So stelle ich mir vor, dass Maria Jesus auf eine Weise gesehen hat und ihm begegnet ist, wie kein anderer Mensch jemals später. Jesus hat sich nicht gescheut, ihr gegenüber auch ohne Glanz und Gloria aufzutreten. Es muss wohl doch eine besondere Beziehung gewesen sein.

Der Christus, den Swami Vivekananda verehrt

Anna Kretschmer bei ihrem Tanz in der Nikolaikirche

Im dritten Gottesdienst unserer Reihe Die Bibel der Anderen tauchten wir in den Hinduismus ein. Die Tanzkünstlerin Anna Kretschmer bezauberte uns mit zwei Tänzen aus der Tradition des Kathak Yoga, und Christoph Seestern-Pauly spielte Stücke von Louis Vierne und das erstaunliche Within you without you von den Beatles. Beides sind Beispiele westlicher Musik, die von indischen Klängen beeinflusst sind.

„Kathaktanz ist eine außergewöhnlich anmutige und lebendige klassische Tanzform aus Nordindien voller Schönheit und Reichtum einer jahrtausendealten Tradition. Charakteristisch für diesen Tanz sind anmutige Bewegungen der Arme und Hände, verschiedenartige Pirouetten, ausdrucksvolle Gestik und Mimik, die Zeichensprache der Hände (Mudras), das rhythmische Fußspiel.“ (Zitat: Anna Kretschmer)

Über Vivekananda und seinen Glauben

Swami Vivekananda wurde 1863 mit dem bürgerlichen Namen Narendranath Datta in Kalkutta geboren. Er studierte ursprünglich Rechtswissenschaft, um in die Fußstapfen seines Vaters, eines Rechtsanwaltes, zu treten. Gleichzeitig beschäftigte er sich mit europäischer Philosophie und war auch dem Atheismus nicht abgeneigt. Mit 18 Jahren lernte er den Mystiker Ramakrishna kennen, der in ihm eine Lebenswende auslöste und sein spiritueller Lehrer wurde. Nach dem frühen Tod dieses Lehrers begab Vivekananda sich als Bettelmöch auf eine Pilgerreise zu den heiligen Stätten des Hinduismus. In dieser Zeit begann er auch, sich „Vivekananda“ zu nennen, das heißt „Freude an der Unterscheidungskraft.“

1893 fand in Chicago das Parlament der Weltreligionen statt. Das war das erste Mal, dass die verschiedenen Religionen einander auf Augenhöhe begegnen sollten. Diese Idee war angestoßen von den damals so erfolgreichen Weltausstellungen. Vivekananda fuhr spontan dorthin und traf auf seiner Reise im Zug eine einflussreiche Dame, die dem Unangemeldeten einen Platz auf der Rednerliste verschaffen konnte. Der Hinduismus war damals bei vielen im Westen noch als bilderanbetende und heidnische Stammesreligion angesehen. In Vivekanandas Vortrag erschien er als philosophisch begründete und für alle Menschen offene Weltreligion, was für Furore sorgte und den Redner mit einem Schlag berühmt machte. Er wurde zu vielen Vortragsreisen eingeladen und fand kaum mehr Ruhe vor Anhängern und Verehrern.

Vivekananda (Quelle: Gemeinfrei)

Für Vivekananda ist der Advaita Vedanta die Wurzel des Hinduismus und in gewisser Weise auch Grundlage aller Religionen. Die Lehre des Advaita Vedanta ist, dass Gott der Urgrund allen Seins und Lebens ist. Als Kernsatz wird angeführt: „Brahman (das Göttliche) und Atman (die menschliche Seele) sind eins.“Wem es gelingt, dieses Göttliche in sich, in allen Menschen und allen Dingen zu erkennen und wirklich zu begreifen, wird durch diese Erkenntnis eins mit Gott. Der Weg dorthin ist durch Meditation und Nächstenliebe geprägt.

Gerne bezog sich Vivekananda in seinen Reden auf einen für ihn fundamentalen Unterschied zwischen Ost und West: Das Abendland, das damals die Welt mit seinem Kolonialismus überzog, sei von Materialismus geprägt, während der Orient die Wiege der Spiritualität sei. Damit greift er die ältere in Indien vorher schon vertretene Meinung auf, dass alle großen Religionsstifter (vgl. Buddha, Jesus, Mohammed) Orientalen gewesen seien und deshalb nicht das Materielle, sondern das Geistig-Geistliche gesucht hätten.

Intensiv beschäftigte sich Vivekananda mit dem Christentum, der Bibel und Jesus Christus. 1900 hielt er in Los Angeles den Vortrag Christ, the Messenger (Christus, der Bote), der bis heute als zentral für sein Christusverständnis überliefert wird.

Christus ist für Vivekananda wahrhaft Gott, denn in ihm war die Einheit von Gott und Mensch im Sinne des Advaita Vedanta vollkommene Realität. Der Swami bezieht sich dabei besonders auf das Wort Jesu „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30). Für ihn lädt Jesus die Menschheit dazu ein, ihm auf diesem spirituellen Weg zu folgen, bis alle Menschen diese Einheit begreifen und für sich wahrnehmen können. Jesus zeigt über verschiedene geistliche Stufen den Weg zum Göttlichen. Das Ziel drückt Jesus so aus: „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“

Allerdings – und das ist die hinduistische Einschränkung – war Jesus in diesem Sinne nicht einzigartig. Die vollkommene Einheit von Gott und Mensch lebten auch andere Figuren der Religionsgeschichte und sie ist letztlich das Ziel für jeden Menschen.

Bei Vivekananda wie bei seinem Vorgänger Rammohan Roy, der am 30. Oktober in der Nikolaikirche „zu Gast“ sein wird, fällt auf, dass der Hinduismus aus Jesu Worten nicht nur spirituelle Kraft und Erkenntnis zieht. Vivekananda war es wichtig, dass auch die Nächstenliebe und das soziale Engagement zum Leben in den Spuren Jesu und auf den Weg zum Göttlichen gehören. Als Begründung führte er in späteren Reden regelmäßig Jesu Wort „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ an.

Vivekananda starb 1902 im Alter von 39 Jahren nach vielen Vortragsreisen durch Indien und die westliche Welt, wohl auch an Erschöpfung. Er hat in seinen letzten Jahren eine weltweite Organisation aufgebaut, die Ramakrisha Math, die bis heute Bestand hat und sich der Meditation, inneren Einkehr und sozialer Arbeit widmet. Zentren gibt es auch in Deutschland.

Literatur: Christ, the Messenger (1900), Karl-Josef Kuschel: Leben ist Brückenschlagen (2011)

Swami Vivekananda, Christus, der Bote
(Christ, the Messenger, Los Angeles, 1900)

Da der Vortrag abgesehen von meiner eigenen Übersetzung urheberrechtsfrei ist, kann er hier auch als Text zur Verfügung gestellt werden. Vivekanandas Rede wurde von mir für die gottesdienstliche Vorlesung bearbeitet und gekürzt. Ziel war es auch, die Stellen, in denen Vivekananda neutestamentliche Zitate hervorhebt und interpretiert, herauszuarbeiten. Der Vortrag in seiner Gesamtheit ist deutlich länger und enthält noch mehr Aspekte.

Wenn sich eine Welle auf dem Ozean erhebt, senkt sie sich nachher wieder zu einem Tal. Und wieder eine andere Welle erhebt sich, vielleicht größer als die erste, um genauso wieder hernieder zu sinken, und sich dann wieder zu erheben – nach vorwärts drängend. Im Zuge der Geschichte erkennen wir Aufstieg und Fall, und wir konzentrieren uns normalerweise auf den Aufstieg, den Fall vergessend. Aber beide sind notwendig, und beide sind groß. Das ist die Natur des Universums. […]

Die Geschichte der Völker gleicht dem. Die große Seele, der Gottesbote, den wir heute Nachmittag betrachten, kam in einer Phase der Geschichte seines Volkes, die wir vielleicht als große Absenkung bezeichnen könnten.

Wir können nur wenige Reflexe erhaschen aus den verstreuten Nachrichten, die uns von seinen Worten und Taten überliefert sind – wahr ist, was gesagt wird, dass die Worte und Taten dieser Großen Seele „die Welt nicht fassen könnte“1, wenn sie alle aufgeschrieben wären. Aber die drei Jahre seines Dienstes waren wie ein komprimiertes, konzentriertes Zeitalter, das nun neunzehnhundert Jahre gebraucht hat, sich zu entfalten, und wer weiß, wie lange es noch anhält! Kleine Menschen wie du und ich sind nur Träger von winzigen Energiemengen. Ein paar Minuten, Stunden, Jahre, wenn es hoch kommt, genügen, um sie zu verbrauchen, zur höchsten Stufe auszustrecken, und dann sind wir für immer entschwunden. Aber schaut auf diesen Giganten, der dort gekommen ist; Jahrhunderte und Zeitalter vergehen, aber die Energie, die er der Welt hinterlassen hat, ist noch nicht erschöpft oder zur vollen Größe ausgestreckt. Sie sammelt neue Lebenskraft im Laufe der Zeitalter. […]

Eines müssen wir bedenken: Mein Blick auf den großen Propheten aus Nazareth kommt aus der Perspektive des Orients. Oft vergesst auch ihr, dass der Nazarener ein Orientale unter Orientalen gewesen ist. Trotz all eurer Versuche, ihn mit blauen Augen und blondem Haar vorzumalen, war der Nazarener immer noch ein Orientale. All die Vergleiche, die Bilder, in denen die Bibel geschrieben ist – die Szenen, die Örtlichkeiten, die Geisteshaltungen, die Poesie und die Symbole – sie alle sprechen zu euch vom Orient: vom strahlenden Himmel, der Hitze, der Sonne, der Wüste, von den dürstenden Menschen und Tieren, von Männern und Frauen, die mit Krügen auf dem Kopf zum Brunnen gehen, um sie zu füllen; von den Herden, den Ackerbauern und von der Landwirtschaft; von der Mühle und dem Rad, vom Mühlenteich und Mühlstein. Das alles kann man bis heute in Asien sehen. […]

So finden wir also Jesus von Nazareth zuallererst, als wahren Sohn des Orients, als vollkommenen Praktiker. Er glaubt nicht an diese flüchtige Welt und ihre Besitztümer. […] Der beste Kommentar zum Leben eines großen Lehrers ist seine eigene Lebensweise. „Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.“2 […]

Er hatte keine andere Beschäftigung im Leben, keinen anderen Gedanken als den, dass er Geist war. Er war körperloser, schrankenloser, ungebundener Geist. Aber nicht nur das! Denn mit seiner wundervollen Visionskraft hatte er erkannt, dass jeder Mann und jede Frau, ob Jude oder Heide, ob reich oder arm, ob Heiliger oder Sünder, eine Verkörperung desselben unsterblichen Geistes ist wie er selbst eine war. Lasst die abergläubischen Träume fahren, sagt er, dass ihr niedrig und arm seid! Denkt nicht, dass ihr Sklaven seid, niedergetrampelt und tyrannisiert, denn in euch ist etwas, was niemals tyrannisiert werden kann, was niemals niedergetrampelt werden kann, niemals beunruhigt, niemals getötet werden kann. Ihr seid alle Söhne Gottes, des unsterblichen Geistes. „Sehet“, erklärte er „das Königreich der Himmel ist inwendig in euch.“3 „Ich und der Vater sind eins.“4

Wagt ihr es, aufzustehen und das zu sagen? Nicht nur „ich bin ein Kind Gottes“, sondern auch „Ich finde in meinem tiefsten Herzen, dass der Vater und ich eins sind“? Das ist, was Jesus von Nazareth gelehrt hat. Er spricht niemals von dieser Welt und diesem Leben. Er hat damit nichts zu tun, außer dass er die Welt, so wie sie ist, ergreifen möchte und ihr einen Stoß geben und sie vorwärts treiben, bis die ganze Welt das strahlende Licht Gottes erreicht hat, bis jeder und jede die eigene spirituelle Natur ergriffen hat, bis der Tod ausgelöscht und das Elend verbannt ist.

Wir kennen die verschiedenen Geschichten, die über ihn geschrieben wurden. Wir kennen die Theologen und ihre Schriften und die historische Kritik, wir wissen alles, was da studiert wurde. Wir sind aber nicht hier, um darüber zu diskutieren, wie viel vom Neuen Testament wahr ist, oder darüber zu debattieren, wie viel von diesem Leben historisch ist. […] Es muss einen Kern gegeben haben, eine gewaltige Kraft, die herabgekommen ist, eine wundervolle Erscheinung spiritueller Kraft – und von dieser sprechen wir. Sie ist da. Und deshalb haben wir keine Angst vor der Kritik der Wissenschaftler.

Wenn ich, als Orientale, Jesus von Nazareth verehren soll, dann gibt es für mich nur eine Art, nämlich ihn als Gott zu verehren, und nichts sonst. […] Wenn wir ihn auf unsere Stufe herabholten und ihm ein wenig Respekt zollten als einem großen Mann, warum sollten wir dann überhaupt verehren? Unsere Schriften sagen: „Jene großen Kinder des Lichts, die das Licht selbst offenbaren, die selbst Licht sind, sie werden, wenn sie angebetet werden, eins mit uns und wir werden eins mit ihnen.“

Wisst ihr: Der Mensch nimmt Gott auf drei Wegen wahr. Als erstes sieht der unentwickelte Geist des ungebildeten Menschen Gott weit weg, irgendwo oben im Himmel, auf einem Thron sitzen als großen Richter. Er begreift ihn als Feuer, als Schrecken. Nun, das ist gut, und es gibt darin nichts Schlechtes. Ihr müsst daran denken, dass die Menschheit nicht von Irrtum zu Wahrheit schreitet, sondern von Wahrheit zu Wahrheit. Wenn es euch besser gefällt, könnte man auch sagen, dass sie von niedriger zu höherer Wahrheit schreitet, aber niemals vom Irrtum zur Wahrheit. Stellt euch vor, ihr startet hier und reist zur Sonne auf gerader Linie. Von hier aus sieht die Sonne sehr klein aus. Nach einer Million Meilen wird die Sonne viel größer sein. Auf jeder Stufe wird die Sonne größer und größer. Wenn zwanzigtausend Photographien von der Sonne gemacht würden, von verschiedenen Punkten aus, dann würden diese zwanzigtausend Photographien sicherlich alle voneinander verschieden sein. Aber könntet ihr behaupten, dass nicht jede eine Photographie derselben Sonne sei? So sind alle Formen der Religion, hoch oder niedrig, unterschiedliche Stufen hin zu dem ewigen Stand des Lichts, der Gott selbst ist. Manche enthalten eine niedrigere Anschauung, andere eine höhere, und das ist der ganze Unterschied.

Also müssen und mussten schon immer die Religionen des einfachen Volkes in der ganzen Welt von einem Gott erzählen, der außerhalb der Welt ist, der im Himmel lebt, der von dort aus regiert und die Bösen bestraft und die Guten belohnt usw.

Als der Mensch sich geistlich entwickelte, begann er zu fühlen, dass Gott allgegenwärtig sei, dass Er in ihm sei, und dass Er überall sein müsse, dass Er nicht ein ferner Gott sei, sondern innig geliebt als die Seele aller Seelen. So wie meine Seele meinen Körper bewegt, so ist Gott der Beweger meiner Seele. Seele in Seele.

Und einige wenige Einzelne, die sich weit genug entwickelt hatten und rein genug waren, sind noch weiter gegangen und sie haben endlich Gott gefunden. Wie das Neue Testament sagt: „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“5 Und sie haben am Ende erkannt, dass sie mit dem Vater eins sind.

Alle diese drei Stufen werden vom Großen Lehrer im Neuen Testament gelehrt. Schau auf das Vaterunser, das er gelehrt hat: „Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name,“ usw. – ein einfaches Gebet, ein Kindergebet. Man nennt es auf Englisch auch auch das common prayer, also das allgemeine Gebet, denn es ist für das einfache Volk gedacht.

Einem engeren Zirkel, der schon etwas fortgeschritten war, gab er eine erhabenere Lehre: „Ich bin in meinem Vater, und ihr seid in mir, und ich in euch.“6 Erinnert ihr euch?

Und dann, als die Juden ihn fragten, wer er sei, erklärte er, dass er und sein Vater eins seien, und die Juden hielten es für Gotteslästerung. Was hat er damit gemeint? [Er sagte ihnen:] Dasselbe haben auch eure alten Propheten erzählt: „Ihr seid Götter und alle von euch sind Kinder des Höchsten.“7 Achtet auf die drei Stufen. Ihr werdet erkennen, dass es am einfachsten ist, mit der niedrigsten zu beginnen und mit der höchsten abzuschließen.

Der Bote kam, um den Pfad zu zeigen: Dass der Geist nicht in äußeren Formen steckt, und dass man ihn durch alle Plackereien und Verknotungen der Philosophie nicht zu erkennen vermag. Am besten ist es, keinerlei Gelehrsamkeit zu haben, am besten, kein einziges Buch im Leben gelesen zu haben. Das alles braucht es nicht zum Heil – auch nicht Reichtum, Stand oder Macht, nicht einmal Gelehrsamkeit; aber was nötig ist, ist eine Sache: Reinheit. „Selig sind die reinen Herzens sind“, denn der Geist in seiner eigenen Natur ist rein. Wie könnte es anders sein? Er ist von Gott, er ist von Gott gekommen. In der Sprache der Bibel: „Er ist der Odem Gottes.“ In der Sprache des Koran: „Er ist die Seele Gottes.“

Meint ihr, der Geist Gottes könne je unrein sein? Aber doch, er war es, tatsächlich, bedeckt mit dem Schmutz und Staub der Jahrhunderte, durch unsere eigenen Handlungen, gute und böse. Verschiedenste Werke, die falsch waren, die nicht wahrhaftig waren, haben denselben Geist mit dem Staub und dem Schmutz der Zeitalter bedeckt.

Man muss den Staub und den Schmutz nur davonwischen, und der Geist scheint mit einem Mal. „Selig sind die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“ „Das Königreich der Himmel ist inwendig in euch.“ Wohin geht ihr, das Reich Gottes zu suchen, fragt Jesus von Nazareth, wenn es doch hier ist, inwendig in euch? Reinigt den Geist, und es ist da. Es gehört euch schon. Wie könnt ihr erlangen, was nicht euer ist? Es ist von Rechts wegen euer. Ihr seid die Erben der Unsterblichkeit, Söhne des Ewigen Vaters. […]

Bei all unseren Fehlern, bei all unseren bösen Gedanken und Taten, gibt es dennoch irgendwo einen leuchtenden Punkt, gibt es doch irgendwo den goldenen Faden, mit dem wir stets in Verbindung mit dem Göttlichen stehen. […] Wie niedrig und gedemütigt wir auch immer sein mögen, irgendwo in unserem Herzen ist immer ein kleiner Lichtkreis, der in steter Verbindung zum Göttlichen steht. […]

So wollen wir uns verbeugen vor den Propheten der Vergangenheit, deren Leben und Lehren wir geerbt haben, vor den gottgleichen Männern und Frauen, die heute der Menschheit helfen, welcher Herkunft, Hautfarbe oder Religion sie sein mögen, und vor denen, die in der Zukunft kommen – lebende Götter – und unseren Nachkommen beistehen.

Quelle: Wikisource.org
Übersetzung und Bearbeitung: Armin Pöhlmann.

Bibelstellen: 1Joh 21,25. 2Mt 8,20; Lk 9,58. 3Lk 17,21. 4Joh 10,30. 5Mt 5,8. 6Joh 14,20. 7Joh 10,22-39.

Gespräch nach dem Gottesdienst und Nachgedanken

Der Kathak-Yoga-Tanz wirkte in den Gesprächen nach.

Schön war es, nach dem Gottesdienst noch draußen im Mutterhausgarten zu sitzen. Dirk Bärenklau hatte indischen Tee im Glühweinkessel angesetzt, und wir haben noch eine lange Zeit miteinander verbracht. Die Eindrücke des Gottesdienstes wirkten vor allem durch den Tanz und den Tee noch nach. Wir redeten über das Vaterunser, das wir gemeinsam mit Anna Kretschmer mit Gesten gebetet hatten, und über die Kunst, jedes Fingerglied einzeln und ausdrucksvoll zu bewegen.

Für Vivekanandas Jesus-Vortrag gilt etwas, was für die interreligiöse Gottesdienstreihe überhaupt gilt, aber vielleicht bei ihm besonders: Als Christen sollten wir nicht darauf achten, was „fehlt“, sondern was er entdeckt hat. Natürlich könnte man sich beschweren, dass unsere lutherischen Lieblingsthemen Kreuz, Sünde und Leiden nicht vorkommen und dass sein Jesus schon fast den Eindruck erweckt, über den den Dingen zu schweben. Aber was hat Vivekananda gefunden?

„Das Reich Gottes ist inwendig in euch.“ So hat es noch Luther übersetzt, der auch stark mystisch orientiert und geprägt war – in unserer heutigen Übersetzung finden wir: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Beides ist als Übersetzung möglich, und der, der die eine oder andere Option wählt, trifft eine Entscheidung. Wir möchten gerne, dass das Reich Gottes in unserer Kirche ist und in unserer Gemeinde, und hoffen auf das „mitten unter euch“. Vivekananda und die Mystiker und Meditierenden aller Zeiten und Orte suchen das Reich Gottes tief im eigenen Inneren, um dort Gott zu begegnen. Fehlt uns das, die wir immer dabei sind, Gemeinde zu organisieren und die wir ängstlich auf Mitgliederzahlen schauen?

Ein anderer interessanter Aspekt mag auch der Vergleich sein. Adele Reinhartz ist mit dem Johannesevangelium hart ins Gericht gegangen, auch wenn sie vom Vierten Evangelisten fasziniert ist. Sein Reden vom „ewigen Leben“ und ähnlichen Kernaussagen kann sie intellektuell begreifen, es hat dennoch keinen Reiz für sie:

Johannes macht eine grundlegende Behauptung: Dass der Glaube an Jesus als den Messias, den Sohn Gottes, der Weg zum ewigen Leben sei. Diese Behauptung jedoch basiert auf einer stillschweigenden Voraussetzung, nämlich dass die Furcht vor dem Tod und die Sehnsucht nach dem ewigen Leben ein universale menschliche Eigenschaft sei in allen Kulturen und Zeitaltern.

Adele Reinhartz, Cast out of the Covenant (übersetzt von mir)

Ein Hindu wie Vivekananda konzentriert sich genau auf solche Aspekte der Botschaft Jesu, während er am historischen Gehalt und der Entstehungsgeschichte der Evangelien überhaupt kein Interesse hat. Die Suche nach dem Reich Gottes und dem ewigen Leben in Gott, in Christus und in mir ist selbstverständlich.

Das Audiomaterial

Wie auch bei den anderen Gottesdiensten gibt es hier die Evangeliumslesung und den Vortrag, die eine gelesen von mir, der andere von Gabriele Phieler vorzüglich vorgetragen. Der ganze Gottesdienst kann bei mir nachgefragt werden.

Joh 14,5-12 (Armin Pöhlmann)
Vivekananda – Christus der Bote (Gabriele Phieler)