Das Evangelium der Lügner

Ein etwas älterer Roman von Naomi Alderman

In welcher Welt hat Jesus gelebt? Die Evangelien schildern uns ein Leben inmitten einer jüdischen Gesellschaft, mit Pharisäern, Sadduzäern, Hohenpriestern, Zöllnern. Ist er tatsächlich nur zweimal Römern begegnet? Dem Zenturio von Kapernaum und Pontius Pilatus? Der eine von beeindruckendem Glauben und der andere, der so wenig Interesse daran hat, jemanden zu kreuzigen, dass er seine Hände in Unschuld wäscht, als das Volk ruft „Kreuzige ihn!“?

Es gibt seit einigen Jahren eine theologische Schule, die sich darauf spezialisiert hat, das Neue Testament im Kontext der römischen Gewaltherrschaft über den Mittelmeerraum neu zu lesen. Musste der Apostel Paulus nicht damit rechnen, dass seine Briefe aus dem Gefängnis von den römischen Wärtern gelesen werden? Hatte das Einfluss darauf, wie er z. B. den Philipperbrief verfasste? War Pilatus wirklich so naiv, dass er die Gefährlichkeit eines Mannes, der als „König der Juden“ ausgerufen wurde, übersehen konnte?

Naomi Alderman ist als Verfasserin von Die GabeThe Power bekannt und als Preisträgerin des Baileys Women’s Prize for Fiction hierzulande eher für Fans von feministisch geprägtem Science Fiction interessant, aber ich habe einen Roman von ihr aufgestöbert, der 2012 erschienen ist: The Liars‘ Gospel. Das Buch ist nicht ins Deutsche übersetzt worden, der Titel würde bedeuten: Das Evangelium der Lügner. Oder vielleicht Das Evangelium der Leugner?

Alderman erzählt die Geschichte Jesu, aber anders als man erwarten möchte. Alt wie das Evangelium selbst sind Geschichten aus der Perspektive von Menschen, die zum Glauben gekommen sind. Alderman erzählt aus vier Perspektiven, wobei sie genau darauf achtet, die hebräisch-aramäischen Namen nachzubilden: Miryam (Maria, Jesu Mutter), Jehuda aus Qeriot (Judas Iskariot), Caiaphas (der Hohepriester Kaiphas) und Bar-Avo (Barrabas) kommen zu Wort. Wohlgemerkt alle vier sind nicht zum Glauben an den Wanderprediger Yehoshuah gekommen. Er hat ihren Weg gekreuzt oder sie haben ihn jahrelang begleitet. Teilweise hat er ihr Leben verändert, aber nicht so, wie man es in einer Geschichte des Urchristentums erwarten würde. Natürlich ist es kein Zufall, dass es gerade vier sind, wie es auch im Neuen Testament vier Evangelisten gibt.

Alderman kennt dabei keine Tabus. Sie selbst stammt aus einer jüdischen Familie und braucht sich um christliche Jesusverehrung kaum scheren. Sie liefert überraschende und kreative Erklärungen, woher die Geburts- und Kindheitsgeschichten stammen, wie es zum „Verrat“ des Judas gekommen ist, was Pilatus vorhatte, als er dem Volk Jesus oder Barrabas zur Wahl stellte für Kreuzigung und Freilassung.

Wir tauchen tief in die Seelen dieser vier Personen ein, aber Jesus bleibt in diesem Roman fremd, er wird nur von außen betrachtet, und die vier Erzählenden geben ihre Mutmaßungen ab. Was wollte er? Worum ging es ihm? War er wirklich verrückt, wie viele im Roman meinen? Ist er ein besonderer oder doch nur ein durchschnittlicher Wanderprediger in dieser verrückten Zeit?

Alderman zeichnet Jesus nur schemenhaft, aber die Welt um ihn herum wird kontrastreich, realistisch, brutal und schonungslos ausgemalt. Ganz stark ist ihre Erzählung, wie der jugendliche Barrabas und seine Kameraden römische Legionäre mit Steinen bewerfen und von ihnen durch die Stadt gehetzt werden, getrieben von Übermut, Angst und ganz viel Adrenalin. Dicht die Beschreibung, was in einem römischen Tempel passiert, und wie Judas in einer ganz anderen Welt abtaucht, nachdem er Jesus ausgeliefert hat. Beengend, wie Alderman die Zwänge des Hohepriester Kaiphas deutlich macht, der mit den Römern um den Frieden in Jerusalem ringen muss, täglich feilschen und Kompromisse machen muss.

Blut, Gewalt und Sex gibt es ebenfalls – beim Letzteren habe ich mich manchmal gefragt, wie es möglich ist, in einer Welt ohne allgemein zugängliche Verhütungsmittel so viel davon zu haben – aber die Quellen schweigen sich über das Sexualleben der antiken Jüdinnen und Juden aus, da ist Raum für Phantasie – was solls.

Alderman zeichnet ein Bild von Judäa, wie wir es aus den Evangelien nicht kennen. Dass es christliche Gemeinden gibt, die nach Ostern die Auferstehungsbotschaft verbreiten, Menschen taufen, wachsen, gibt es in diesem Roman nur gerüchteweise, vom Hörensagen. Aldermans Judäa ist ein Land, das von Rom besetzt und unterjocht ist, dessen Menschen hin und her gerissen sind zwischen Anpassung und Widerstand. Wenn Barrabas Fischer um sich schart, um sie zum Aufstand gegen die Römer anzuführen, benutzt er ganz ähnliche Worte wie Jesus, wenn er seine Jünger ruft:

„Kommt und folgt mir, folgt mir und befreit das Land von der Tyrannei!“

„Wir können dir nicht folgen“, sagen sie, „wir müssen die Netze einholen und unsere Familien ernähren.“

Und er sagt: „Ist Gott nicht Herr über alles?“

Und sie sagen: „Ja.“

Und er sagt: „Wird Gott also nicht für seine Kinder sorgen, wenn sie ihm nur folgen?“

Und Alderman fädelt ihre Geschichte so ein, dass auch Barrabas am Gründonnerstag von einem der Seinen verraten und ausgeliefert wird, sodass er mit Jesus in der Zelle landet.

In diesem Judäa gibt es Gruppen von Rebellen wie die um Barrabas, Gruppen, die sich um seltsame Prediger scharen, um Heiler, und auch die Jesusgruppe ist eine dieser vielen Gruppen – und es ist unbestimmt, ob sie politische Ziele verfolgt oder nicht. Wenn Jesus seine Vision von der Feindesliebe verkündet, ist er einerseits tief religiös und gleichzeitig hoch politisch.

Ein ganz neues Licht wirft Alderman auf die religiösen Eliten des Judentums der damaligen Zeit. In den neutestamentlichen Evangelien sind die Pharisäer und Schriftgelehrten gegenüber Jesus skeptisch, dann zunehmend aggressiv, schließlich beschließen sie, auf seinen Tod hinzuarbeiten. Dabei machen die Evangelisten kaum klar, was er genau verbrochen hat, um ihre Wut so auf sich zu ziehen – es sei denn, sie seien religiös engstirnige und machtversessene Egomanen, die niemanden neben sich dulden können. Zumindest aus der Perspektive des heutigen Judentums, das so viele Strömungen ewig streitend und tolerant in sich vereint, ist diese Darstellung merkwürdig. Bei Alderman gibt es immer wieder Pharisäer, die mit Jesus auf der Bühne harte Schaukämpfe aufführen um die richtige Deutung der Gesetze und des Willens Gottes – denn um die Wahrheit muss gestritten werden – aber dann laden sie Jesus zum Essen ein und bedanken sich für das gute Wortgefecht. Unmöglich ist das nicht – und auch die Evangelien berichten immer wieder von Einladungen Jesu bei Pharisäern.

Vom Gerichtsverfahren vor dem Hohen Rat liefert Alderman auch eine neue Version – und das Bild des neutestamentlichen Pilatus, der dort wie ein lenkbarer Erfüllungsgehilfe daherkommt, korrigiert sie mit der realistischeren Darstellung des Josephus, der uns Pilatus als ignoranten Tyrannen überliefert hat.

Erinnern wir uns an die Szene in der Bibel, in der Pilatus dem Volk die Frage stellt, ob Jesus oder Barrabas freigelassen werden soll? Alderman liefert eine neue Folie dafür:

„Es gibt einen Sport bei den Römern. Er heißt „einer von zweien wird sterben, und die Menge entscheidet, welcher.“ Sie lieben diesen Sport. Es ist ihre herrlichste Unterhaltung. Sie spielen ihn mit Sklaven und gefangenen Feinden.“

Gladiators Thumbs Down, von Jean Leon Gerome (1872).

Damit spielt sie in die altbekannte Pilatusszene die Bilder der blutigen Gladiatorenkämpfe ein, bei denen ja tatsächlich die Menge johlend entscheiden durfte, welcher sterben und wer leben sollte. Wem der Bibeltext bisher nahegelegt hat, es könnte sich um eine Verlegenheitsgeste des Statthalters gehandelt haben, um Jesus vielleicht noch gehen lassen zu können, kann hier etwas lernen.

Wo ist der Jesus des Urchristentums in Aldermans Evangelium der Lügner? Wir hören hin und wieder, dass seine Jüngerinnen und Jünger weitermachen, nach seinem Tod, dass sie behaupten, er lebe wieder. Alle vier Gewährspersonen in Aldermans Buch, Maria, Kaiphas, Judas und Barrabas haben am dritten Tag das Grab leer gefunden und rätseln darüber, wer seinen Leichnam wohl gestohlen haben könnte. So wird das Osterereignis auf der Erzählebene zwar geleugnet, aber dennoch mit Respekt behandelt. Alderman als Jüdin setzt hier möglicherweise eine Grenzmarkierung: Ich kann über Jesus aus der Perspektive damaliger Jüdinnen und Juden schreiben, aber er ist mir nicht so nah, dass ich in dieses Geheimnis eindringen könnte oder wollte.

Freilich muss man als Christ aushalten, Jesus als gescheiterten Wanderprediger beschrieben zu sehen, der von Leuten, die ähnlich verrückt sind wie er, vergöttert wird. Aber dafür ist es ja auch das Evangelium der Lügner. Es könnte an jeder Stelle sein, dass die Erzählenden lügen, auch über Jesus die Unwahrheit sagen.

Der Roman war faszinierend zu lesen. Die dichten atmosphärischen Beschreibungen werden mir lange nicht aus dem Kopf gehen. Die Vermutung, dass die Konfrontation der frühen Christengemeinden mit der römischen Staatsgewalt im Neuen Testament zurücktreten musste im Vergleich zur Konfrontation mit der jüdischen Synagoge, steht schon länger im Raum. Naomi Alderman hat einen vielschichtigen Roman in vier Perspektiven daraus gemacht.