Der Herr der Ringe – ein phantastischer Gottesdienst

Eine ungehaltene Predigt

Im Oktober 2023 haben wir in der Nikolaikirche einen phantastischen Gottesdienst gehalten – buchstäblich phantastisch, denn das Thema war Der Herr der Ringe. Nach der Reihe Die Bibel der Anderen spukte es mir lange durch den Kopf, einmal etwas zu machen, bei dem nicht ich als Experte den Leuten alles erkläre, sondern den Spieß einmal umzudrehen: Ich rufe Expertinnen und Experten zusammen, und wir gestalten einen Gottesdienst miteinander. Und zum Herrn der Ringe gibt es eine Menge Fachleute, die alles wissen und kennen, was mit Tolkien zu tun hat.

Meinem Aufruf ist tatsächlich eine Gruppe gefolgt, und wir haben miteinander einen Gottesdienst ausgetüftelt, der sich mit dem ersten Teil des Herrn der Ringe beschäftigen sollte. Nun schlug das in den Medien solche Wellen, wurde im Radio und in deutschlandweiten Internetportalen angekündigt, dass mir Angst und Bange wurde. Wir hatten geplant, Gesprächsgruppen zu veranstalten, in denen wir in Ecken der Nikolaikirche über bestimmte Themen aus dem Buch reden wollten. Was, wenn nun plötzlich 300 Leute auf der Matte stehen, in Elbenkostümen und mit Orkmasken?

Also habe ich eine Predigt geschrieben „für den Notfall“. Notfall heißt, dass das ursprünglich dialogische Konzept nicht geht, sondern dass einer auf die Kanzel steigen muss, um der Masse etwas zu erzählen. Die Predigt kam nicht zum Einsatz, weil wir am Ende das machen konnten, was wir uns vorgenommen hatten – aber ich stelle sie hier mal rein, damit nicht alles umsonst war.

Der Gottesdienst war ein großer Erfolg, und wir planen eine Fortsetzung für den zweiten Teil Die zwei Türme, aber das ein andermal. Ein Dialog, den wir tatsächlich im ersten Gottesdienst gehalten haben, wird demnächst folgen. Aber zunächst einmal die „ungehaltene Predigt:

Der Herr der Ringe – ein christliches Buch?

Die Gnade unseren Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.

The grace of the Lord Jesus Christ, and the love of God, and the fellowship of the Holy Spirit, be with you all. (2Kor 13,14)

Liebe Gemeinde!

Es ist bestimmt zwanzig Jahre her, dass ich das erste Mal den Herrn der Ringe gelesen habe. Damals fand ich das Buch ziemlich gut, und ich habe schon eine Ahnung bekommen von der Kraft, die darin steckt. Einmal saß ich damit im Park auf einer Bank und las, und da kamen zwei ältere Damen auf mich zu, grüßten mich und sprachen mich an: „Was lesen Sie denn da für ein Buch? Worum geht es da?“ Ich sagte lächelnd: „In diesem Buch geht es um den großen Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen.“ Da sagten die Damen erfreut: „O, das ist auch unser Thema!“‚ Sie drückten mir ein Wachtturm-Heft in die Hand und verabschiedeten sich. Da beschlich mich das erste Mal die Vermutung: Könnte das ein religiöses Buch sein, der Herr der Ringe?

Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Tolkien war gläubiger und praktizierender Christ, soviel ist sicher. Und es gibt dieses berühmte Zitat von ihm: „Dass ich Christ bin, kann man aus dem Herrn der Ringe ableiten. Ob man auch ableiten kann, dass ich katholisch bin, weiß ich nicht. Aber manche Leute finden da so einiges.“ Ich hatte nie darüber nachgedacht, ob Galadriel ein Abbild der Gottesmutter Maria sein könnte – das ist mir als Lutheraner sowieso nicht so vertraut. Aber da schleppt einer einen Ring die ganze Zeit, und er muss diesen Ring vernichten. Und die einzige Möglichkeit ist, den Ring in die Lava des Schicksalsberges zu werfen. Aber es stellt sich heraus, dass er das nicht kann, weil er den Ring nicht hergeben kann. Er muss selbst mit dem Ring hinein, das wäre die einzige, die übermenschliche Lösung.

Als wir die Filme mit unserer Familie angeschaut haben, hat der Kleinste gefragt, warum es da keinen Bosskampf gibt. Eigentlich müsste doch Frodo am Ende mit Sauron kämpfen, wie in allen Filmen. Aber Frodo kämpft mit sich selbst. Das Böse wird nicht durch direkte Aggression besiegt, sondern durch Selbstüberwindung. Das klingt schon unheimlich christlich.

Aber, so werden bestimmt viele einwerfen, da ist doch gar nichts Christliches in diesen Büchern drin. Es gibt keine Religion, keinen Jesus, keine Kirchen, niemand betet. Man wird nicht vollgepredigt auf irgend eine Art und Weise. Und so gibt es seit einigen Jahren verstärkt eine ganz spannende Diskussion zwischen denen, die eine Art von Christlichkeit in Tolkiens Werken finden und denen, die das überhaupt nicht sehen können.

Gefährten

Der erste Band heißt Die Gefährten, oder auf englisch The Fellowship of the Ring. Das haben wir uns für heute Abend vorgenommen, und wenn unser Konzept mit höchstens 80 oder 100 Gottesdienstbesucherinnen und -besuchern aufgegangen wäre, würden wir jetzt rundum an den Tischen sitzen und über verschiedene Motive aus diesem ersten Band reden. Weil unser Konzept mit dieser erfreulich großen Menge, die hier heute Abend da ist, nicht aufgeht, muss ich jetzt wohl oder übel predigen über die Gefährten. Was bleibt mir als Pfarrer anderes übrig?

Was ist das aber nun für Gefährtentum, was ist das für eine Fellowship, von der da die Rede ist? Wesen verschiedenster Art, zwei Menschen, ein Zauberer, ein Zwerg, vier Hobbits, ein Elb – und ein Pony! – machen sich auf mit dem Ring, um eine Mission zu erfüllen. Es ist eine Mission, die Zusammenhalt braucht in dunkelster Zeit.

Steigen wir etwas ein in Tolkiens Biografie und die Geschichte seiner Zeit. Tolkien war im ersten Weltkrieg als junger Mann, genauso wie sein späterer Freund C.S. Lewis, der die Chroniken von Narnia geschrieben hat. Der erste Weltkrieg war der blanke Horror für die Soldaten. Das ist uns heute nicht mehr so klar, weil so vieles Schlimmere später gekommen ist. Die Generäle hatten ihr Handwerk im 19. Jahrhundert gelernt, als noch schmucke Reiter in glänzenden Rüstungen aufeinanderprallten. Aber dieser Krieg war ganz anders. Der Weltkrieg war der erste große moderne Krieg in Europa. In der Schlacht an der Somme, in der Tolkien gewesen ist, starben am ersten Tag 20.000 britische Soldaten, 40.000 wurden schwer verwundet. Es gab alles, was es im 19. Jahrhundert noch nicht gegeben hatte: Luftangriffe, Panzer, Granaten mit unvorstellbarer Reichweite, jederzeit konnte überall eine Bombe hinfliegen und die Männer in Stücke reißen. Fliegende Drachenreiter sind in der heutigen Fantasy kaum der Erwähnung wert. Im Herrn der Ringe spürt man noch diesen Horror, wenn das Böse plötzlich aus der Luft kommt. Die, die diese Angriffe überlebten, mussten schauen, dass sie irgendwie zusammenbleiben konnten, gemeinsam das alles überstehen.

Die englische Gesellschaft war strikt klassenorientiert. Es gab den Adel und die königliche Familie, dann die Mittelschicht, dann die Dienstboten, ganz unten die, die man nur als Abschaum bezeichnete. Sie waren alle miteinander in diesen Krieg und in das Chaos dieses Krieges geworfen und mussten zurecht kommen. Die Adligen waren der Meinung, dass nur sie selbst zu echter Tapferkeit, zu Mut und zu ritterlichem Handeln fähig waren. Aber sie mussten erkennen, dass es all diese Eigenschaften auch bei den einfachen Leuten gab. Bauern, die vor kurzem noch die Kühe gehütet hatten, warfen sich auf Granaten, um sich zu opfern und ihre Freunde zu retten. Ja, Freunde mussten sie alle werden, sonst drohte der Untergang.

Tolkien war nur kurz im Krieg, aber diese Erlebnisse haben ihn geprägt, seine ganze Generation. Die Hälfte der Schulkameraden ausgelöscht, die andere Hälfte schwer verstört, auf der Suche nach Orientierung.

Schauen wir doch mal auf die Gefährten. Sie sind, kaum verhüllt, ein Abbild der alten britischen Gesellschaft. Das gibt es alten und hohen Adel verschiedener Stufen – Legolas, Aragorn, Boromir. Der Zwerg Gimli irgendwo in der Mitte, aber auch altes Geschlecht. Dann die Hobbits, eine Nummer kleiner, Frodo, Merry und Pippin schon Bürger, die irgendwie stolz auf ihre Herkunft sind, aber vollkommen ahnungslos von der großen Welt, irgendwo vom Land kommend, und Sam, der Niedrigste, der Dienstbote. Sie haben ihre Konflikte, sie haben unterschiedliche Ziele, aber sie finden sich zusammen und treten diese große Mission miteinander an. Merry und Pippin ziehen am Anfang aus Freundschaft und Anhänglichkeit mit, aber sie werden mit immer schlimmeren Erlebnissen konfrontiert, sie erleben Boromirs Opferbereitschaft, und am Ende vollbringen sie wichtige Heldentaten. Tolkien nimmt etwas vorweg, was jetzt gerade in vielen Erzählungen, Büchern und Filmen die Mode ist: Eine diverse Gruppe besteht gemeinsam das Abenteuer, weil sie sich in ihrer Vielfalt ergänzen und einfach ein gutes Team sind.

Heute kann ich diese Vielfalt auf verschiedenste Weise lesen und verstehen. Die Zwerge, Elfen und Hobbits können auch als verschiedene Völker und Hautfarben, als verschiedene Religionen und Kulturen gelesen werden. Sie kommen in ihren kulturellen Eigenheiten zusammen. Die einen sind lieber in Höhlen, die anderen in luftigen Wäldern. Aber im Kern und Ursprung sind sie alle gleich – so wie wir Menschen alle gleich sind.

Tugenden

Was aber sind die Strategien, mit denen die Gefährten ihr Abenteuer bestehen? Loyalität und Treue, Liebe zueinander, die Fähigkeit, mal das eigene Interesse zurückzustecken, Selbstdisziplin, die Kraft, der Versuchung zu widerstehen – wer diese Kraft nicht hat, scheitert! – Demut und Bescheidenheit, sich auf einander einlassen zu können und einander als gleich wert und gleich gut zu erkennen. Das sind ganz altmodische Tugenden. Sie sind so altmodisch, dass sie in der Bibel stehen.

„Darum legt die Waffenrüstung Gottes an, damit ihr am Tag des Unheils widerstehen, alles vollbringen und standhalten könnt! Steht also da, eure Hüften umgürtet mit Wahrheit, angetan mit dem Brustpanzer der Gerechtigkeit, die Füße beschuht mit der Bereitschaft für das Evangelium des Friedens. Vor allem greift zum Schild des Glaubens! Mit ihm könnt ihr alle feurigen Geschosse des Bösen auslöschen. Und nehmt den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, das ist das Wort Gottes!“ So steht es im Epheserbrief (Eph 6,13-17). Wir lesen das in der Kirche nicht mehr so oft, weil das so kriegerisch klingt – aber es geht ja um einen geistigen und geistlichen Kampf. Die andere Seite kämpft mit List und Tücke, sie ist nicht fair, sondern will betrügen. Wir lassen uns darauf nicht ein, sondern wir greifen zurück auf die ritterlichen Tugenden der Vergangenheit. Dazu tritt dann noch das Verständnis, dass alle Menschen gleich sind. Die christliche Kirche war ganz an Anfang revolutionär, weil sie Menschen verschiedenster Herkunft und Sprache verbunden hat.

Und da kann ich das jetzt durchbuchstabieren. Der erste Weltkrieg war ein abscheulicher Krieg, aber – so war die Meinung von vielen Überlebenden: Wer inmitten von Chaos sich auf die alten christlichen Tugenden besinnen konnte, der konnte überleben. Sauron ist ein gewaltiger Gegner, und eigentlich haben wir keine Chance gegen seine Macht, und er kämpft nicht mit sauberen Mitteln. Aber wir fallen auf ihn nicht herein. Wir nehmen nicht den Ring und versuchen nicht, ihn mit seinen eigenen abscheulichen Waffen zu besiegen. Sondern wir tun uns zusammen, wir bilden eine Gemeinschaft wie in alter Zeit, aber wir finden uns auch mit allen zusammen, die früher am Rande waren. Wir sind eine Gemeinschaft der Gleichen, und so können wir Saurons Waffen vernichten. Und heute? Die Welt ist voll Trug und Fake News, alle Diskussionen arten in abscheuliche Streitereien aus mit Hass und Wut. Eine Welle nach der anderen wälzt sich durchs Internet. Und überhaupt ist die Welt unübersichtlich geworden mit den Kriegen, die näher rücken, mit der drohenden Klimakatastrophe, mit all den Veränderungen – da kann ich mich auch auf die alten christlichen Tugenden, auf die Tugenden der Gefährten besinnen. Verbinden statt trennen, Verständigung statt Hass, Treue und Selbstbescheidenheit. Nicht mich selbst in den Vordergrund stellen, sondern die Gemeinschaft. Sauron, das ist ja nicht irgendwer da draußen, sondern das ist der Hass in meinem Herzen, den muss ich vom Thron stürzen.

Das ganze Heroische und Kämpferische im Herrn der Ringe, da muss ich als heutiger Christ immer so ein bisschen schlucken. Das ist uns nach dem zweiten Weltkrieg eigentlich ausgetrieben. Das stammt aus einer vom Krieg geprägten Zeit. Aber die Tugenden, die bleiben.

Fazit.

Ja, ist es denn jetzt ein christliches Buch, der Herr der Ringe? Ich probier es mal so: Es ist ein Buch, von einem Christen geschrieben und der ganzen Welt geschenkt. Ich als Christ kann es als christliches Buch lesen und verstehen, und ich habe in meiner Glaubensschatztruhe auch ein paar schöne Schlüssel, den Inhalt aufzuschließen. Aber es kann auch jeder und jede andere lesen und neue Möglichkeiten hervorbringen, wie man es verstehen kann. Und in all dieser Unterschiedlichkeit können wir eine Gefährtenschaft gründen.

Amen.

Eine wichtige Quelle für diese Predigt ist der Podcast von Brian McGreevy, Vortrag in der St. Philip’s Church, Charleston, SC, „The Fellowship. Lewis, Tolkien, and the Inklings.“

Das Bild für diesen Beitrag wurde von Steve Bauerschmidt fotografiert, der im Auftrag von BILD beim Gottesdienst dabei war. Vielen Dank für die Erlaubnis, es hier einzustellen.