Jesus schließt die Tür auf

Predigt zum II. Advent 2023, Nikolaikirche Eisenach – Offenbarung 3,7-13

Liebe Gemeinde!

In Marisfeld in Südthüringen gibt es ein altes Schloss, wie es dort so viele Schlösser auf den großen Dörfern gibt. Aber in Marisfeld ist ein Kinderheim und Waisenhaus im Schloss untergebracht. Vor über 25 Jahren wurde es von der Diakonie im Henneberger Land übernommen und renoviert, und der damalige Diakoniechef Herr Stiehler hat mir einmal die Geschichte von dem Tor erzählt. Das Schloss hatte nämlich ursprünglich ein großes schweres Holztor. Bei der Sanierung kam der Architekt zum Diakoniechef und sagte zu ihm: „Stellen Sie sich einmal vor, ein Kind kommt das erste Mal ins Kinderheim, und hinter ihm wird dieses Tor zugemacht. Wumm, Riegel vor. Würden Sie da nicht Angst kriegen?“ Und er hatte Recht: Das ist die Szene in jedem Vampirfilm. Der Held betritt das düstere Schloss, er freut sich, dass er dem Regen entkommen ist, und dann kracht die Tür hinter ihm zu, ist vielleicht auch gleich schon verschlossen, und er ist gefangen. Das macht Angst. Herr Stiehler hat dann mit dem Denkmalschutz verhandelt, und am Ende kam das Holztor weg, und jetzt ist dort eine große Glastür. Die Kinder sind geschützt durch die Mauern, aber sie können eben hinausschauen, und das Licht kommt herein. Wie schön ist eine Tür, die ich öffnen kann! Wie schlimm kann eine Tür sein, die verschlossen ist, und die ich nicht öffnen kann!

Wenn die Tür verschlossen ist, und ich kann sie nicht öffnen, dann brauche ich den Mann oder die Frau mit dem Schlüssel. In unserem heutigen Predigttext, in der Offenbarung, im 3. Kapitel, da offenbart sich Jesus als der, der den Schlüssel hat. Ich lese Ihnen das Stück vor, es ist der Brief Jesu an die Gemeinde in Philadelphia:

Schreibe an den Engel der Gemeinde in Philadelphia: Der, der heilig ist, dessen Wort wahr ist und der den Schlüssel Davids hat – wenn er aufschließt, kann niemand zuschließen, und wenn er zuschließt, kann niemand aufschließen –, der lässt der Gemeinde sagen:
Ich weiß, wie du lebst und was du tust: Du hast nur wenig Kraft, aber du hast dich nach meinem Wort gerichtet und dich unerschrocken zu meinem Namen bekannt. Darum habe ich eine Tür vor dir geöffnet, die niemand zuschließen kann. Ich werde sogar dafür sorgen, dass Leute aus der Synagoge des Satans zu dir kommen und sich vor dir niederwerfen – Leute, die lügen, indem sie sich Juden nennen, obwohl sie gar keine Juden sind. Sie sollen erkennen, wie sehr ich dich liebe. Weil du dich an meine Aufforderung gehalten hast, standhaft zu bleiben, werde auch ich zu dir halten und dich bewahren, wenn die große Versuchung über die Welt hereinbricht, jene Zeit, in der die ganze Menschheit den Mächten der Verführung ausgesetzt sein wird. Ich komme bald. Halte fest, was du hast! Lass dich von niemand um deinen Siegeskranz bringen!

Offb 3,7-11, Übersetzung: NGÜ, mit Korrektur in V. 9.

In der Offenbarung des Johannes werden sieben Gemeinden angesprochen. Sie sind alle in Kleinasien, der heutigen Türkei, manche sind heute Ruinen und Ausgrabungsstätten, andere gibt es bis heute als große Städte wie Ephesus. Aus diesen sieben Briefen können wir erschließen, was das für Gemeinden damals waren, in welchen Konflikten sie standen, wo sie sich bewährt haben und wo nicht.

Die Gemeinde in Philadelphia war anscheinend eine kleine Gemeinde — Jesus sagt: „Du hast nur wenig Kraft“. Dennoch waren die Christen dort mutig — Jesus sagt: „Du hast dich nach meinem Wort gerichtet und dich unerschrocken zu meinem Namen bekannt.“ Und deshalb hat Jesus, so sagt er, „eine Tür geöffnet, die niemand zuschließen kann.“ Was soll das nun wieder bedeuten?

Die offene Tür wider die Versuchung.

Jesus hat die Vollmacht. Er hat den Schlüssel Davids, und er hat die Tür geöffnet, die „niemand zuschließen kann.“ Eine verschlossene Tür sperrt entweder ein oder aus. Auf jeden Fall ist sie ein verschlossener Weg. „Hier geht es nicht weiter“, so sagt die verschlossene Tür. Jesus sagt zu der Gemeinde in Philadelphia, dass eine große Versuchung über die Welt hereinbricht, und dass er sie davor bewahren will. Und diese Versuchung hängt, so meine ich, ganz eng mit der Tür zusammen.

Versuchung, das wird oft so verstanden, dass wir durch irgendwelche Begierden dazu gebracht werden, etwas zu tun, das Spaß macht, aber ins Verderben führt. Da kann sich ja jeder etwas anderes vorstellen. Es gibt aber eine Versuchung, die noch gefährlicher ist: Es ist die Versuchung, aufzugeben, die Hoffnung zu verlieren, zynisch zu werden, keine Perspektive mehr zu sehen. Wolf Biermann hat einst gesungen: „Du lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit. Die allzu Harten brechen noch vor dem großen Streit.“ Und einmal beim Jubiläum des Mauerfalls hat er sich daran erinnert, dass er damals an die Menschen im Gefängnis gedacht hat, die dort hart, hoffnungslos, resigniert, gebrochen worden sind. Resignation macht hart, sie macht depressiv, sie macht auch hassend, sie macht krank – je nachdem, wie ein Mensch veranlagt ist.

Und damit hängt die offene Tür ganz eng zusammen. Wer resigniert, sieht die offene Tür nicht mehr. Es klingt merkwürdig, dass Jesus sagt, dass die Tür von niemandem wieder verschlossen werden kann, aber diese Versicherung ist wichtig! Es ist kein Platz für Resignation, wo eine offene Tür ist, und wo auch keiner die Tür zumachen kann.

Vor zwei Wochen war ich auf einem ökumenischen Treffen, und in einer Diskussionsrunde ging es um die Frage, was ein Zeichen der Hoffnung ist, oder wie überhaupt Hoffnung vermittelt werden kann in unserer Gesellschaft. Und das schien uns schwerer als angenommen. Einer erzählte von seiner Nachbarin im Wohnblock. Jedes Mal, wenn er sie trifft und sie ins Reden kommen, dann schwärmt sie davon, was das für eine schöne Hausgemeinschaft früher gewesen ist – und „früher“ ist natürlich die DDR-Zeit, und dass sie Feste gemeinsam gefeiert haben im ganzen Treppenaufgang. „Aber jedes Mal“, so hat er uns erzählt, „wenn ich dann sage: Dann lasst uns doch mal so ein Fest feiern! Wir holen alle im Haus zusammen und denken uns was aus!“ – dann macht sie schnell die Tür zu und sagt: „Nein, doch nicht mit diesen Leuten, das ist nicht mehr so wie früher.“

Die Tür selber zumachen, das ist eine große Versuchung. Dann kann ich dahinter bleiben und im Leid baden. Es ist eine Versuchung, zu resignieren. Wer resigniert, braucht nichts mehr machen. Das ist auch bequem, und darin steckt die Versuchung. Es ist bequem, zuhause zu sitzen und sich zu beschweren, dass man alt und einsam ist. Es braucht Anstrengung, mal in den Seniorenkreis zu gehen und Leute zu treffen.

Jesus sagt: Die Tür ist offen. Da, schaut doch her! Ich habe aufgeschlossen! Es gibt keinen Grund, drin sitzen zu bleiben und zu resignieren. Ihr meint, dass die anderen eure Feinde sind, und dass es da keine Brücke gibt, und dass sie euch hassen — schaut, da kommen schon welche von euren Feinden, und sie werden sich entschuldigen für das Böse, was sie euch getan haben, denn die Tür ist offen! Die Gemeinde in Philadelphia hat sich nicht verbittern und verhärten lassen.

Hinter der Tür ist der Vater.

Jetzt könnte ja jemand sagen: Das ist ja schön und gut, Herr Pfarrer, mit der offenen Tür, aber was ist da dahinter? Lohnt es sich denn, durch die Tür zu gehen? Das müssen die Optimisten ja auch begreifen, dass es irgendwo eine Kosten-Nutzen-Rechnung gibt.

Jesus verheißt der Gemeinde etwas, und dann kann ich auch begreifen, was das eigentlich für eine Tür ist:

Den, der siegreich aus dem Kampf hervorgeht, werde ich zu einem Pfeiler im Tempel meines Gottes machen, und er wird seinen Platz für immer behalten. Und auf seine Stirn werde ich den Namen meines Gottes schreiben und den Namen der Stadt meines Gottes, des neuen Jerusalems, das von ihm aus dem Himmel herabkommen wird, und meinen eigenen neuen Namen. Wer bereit ist zu hören, achte auf das, was der Geist den Gemeinden sagt!

Offb 3,12-13

Es ist die Tür zum Tempel Gottes, die da geöffnet ist. Es ist die Tür, die zu Gott selbst führt, die niemand verschließen kann. Und die Menschen, die nicht aufgeben, die nicht resignieren, die sich nicht versuchen lassen, die werden einen festen Platz bekommen vor Gott. Hier heißt es: sie sollen zu Pfeilern im Tempel Gottes werden, und die Namen Gottes, Jerusalems und Jesu sollen auf sie geschrieben werden. Das ist natürlich bildhaft gemeint. Ein starker Pfeiler überdauert die Jahrtausende. Der feste Platz vor Gott und in Gottes Reich, das ist das, was uns bevorsteht, wenn wir uns nicht ablenken lassen.

Wenn ich zurückkehre zum Bild vom Kinderheim am Anfang. Da sind Kinder, die haben ihre Familie verloren, in den meisten Fällen sind es auch Familien, die diesen Namen nicht verdienen. Wenn sie resignieren und aufgeben, dann werden sie im Geist immer im Kinderheim bleiben, hinter einer großen verschlossenen Holztür. Wenn sie die Hoffnung nicht aufgeben und begreifen, dass das Leben Schönes für sie bereithält, wenn sie sehen, dass die Tür nicht verschlossen ist, sondern dass Herr Stiehler die Glastür hat einbauen lassen, durch die Licht in den Innenhof kommt: Dann werden sie einst durch dieses Tor nach außen treten und eine eigene Familie haben, die diesen Namen verdient.

So bin auch ich in diesem Leben: Ich kann hier sitzen und jammern, dass ich niemanden habe, oder ich kann Hoffnung schöpfen und die offene Tür sehen, die Jesus aufgeschlossen hat — und hindurchgehen und dem Vater begegnen.

Amen.

Das Bild vom Schloss Marisfeld stammt vom Fotografen Störfix https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Marisfeld-Schloß.jpg und ist von ihm unter Lizenz https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/legalcode freigegeben.