Der Christus, den Swami Vivekananda verehrt

Anna Kretschmer bei ihrem Tanz in der Nikolaikirche

Im dritten Gottesdienst unserer Reihe Die Bibel der Anderen tauchten wir in den Hinduismus ein. Die Tanzkünstlerin Anna Kretschmer bezauberte uns mit zwei Tänzen aus der Tradition des Kathak Yoga, und Christoph Seestern-Pauly spielte Stücke von Louis Vierne und das erstaunliche Within you without you von den Beatles. Beides sind Beispiele westlicher Musik, die von indischen Klängen beeinflusst sind.

„Kathaktanz ist eine außergewöhnlich anmutige und lebendige klassische Tanzform aus Nordindien voller Schönheit und Reichtum einer jahrtausendealten Tradition. Charakteristisch für diesen Tanz sind anmutige Bewegungen der Arme und Hände, verschiedenartige Pirouetten, ausdrucksvolle Gestik und Mimik, die Zeichensprache der Hände (Mudras), das rhythmische Fußspiel.“ (Zitat: Anna Kretschmer)

Über Vivekananda und seinen Glauben

Swami Vivekananda wurde 1863 mit dem bürgerlichen Namen Narendranath Datta in Kalkutta geboren. Er studierte ursprünglich Rechtswissenschaft, um in die Fußstapfen seines Vaters, eines Rechtsanwaltes, zu treten. Gleichzeitig beschäftigte er sich mit europäischer Philosophie und war auch dem Atheismus nicht abgeneigt. Mit 18 Jahren lernte er den Mystiker Ramakrishna kennen, der in ihm eine Lebenswende auslöste und sein spiritueller Lehrer wurde. Nach dem frühen Tod dieses Lehrers begab Vivekananda sich als Bettelmöch auf eine Pilgerreise zu den heiligen Stätten des Hinduismus. In dieser Zeit begann er auch, sich „Vivekananda“ zu nennen, das heißt „Freude an der Unterscheidungskraft.“

1893 fand in Chicago das Parlament der Weltreligionen statt. Das war das erste Mal, dass die verschiedenen Religionen einander auf Augenhöhe begegnen sollten. Diese Idee war angestoßen von den damals so erfolgreichen Weltausstellungen. Vivekananda fuhr spontan dorthin und traf auf seiner Reise im Zug eine einflussreiche Dame, die dem Unangemeldeten einen Platz auf der Rednerliste verschaffen konnte. Der Hinduismus war damals bei vielen im Westen noch als bilderanbetende und heidnische Stammesreligion angesehen. In Vivekanandas Vortrag erschien er als philosophisch begründete und für alle Menschen offene Weltreligion, was für Furore sorgte und den Redner mit einem Schlag berühmt machte. Er wurde zu vielen Vortragsreisen eingeladen und fand kaum mehr Ruhe vor Anhängern und Verehrern.

Vivekananda (Quelle: Gemeinfrei)

Für Vivekananda ist der Advaita Vedanta die Wurzel des Hinduismus und in gewisser Weise auch Grundlage aller Religionen. Die Lehre des Advaita Vedanta ist, dass Gott der Urgrund allen Seins und Lebens ist. Als Kernsatz wird angeführt: „Brahman (das Göttliche) und Atman (die menschliche Seele) sind eins.“Wem es gelingt, dieses Göttliche in sich, in allen Menschen und allen Dingen zu erkennen und wirklich zu begreifen, wird durch diese Erkenntnis eins mit Gott. Der Weg dorthin ist durch Meditation und Nächstenliebe geprägt.

Gerne bezog sich Vivekananda in seinen Reden auf einen für ihn fundamentalen Unterschied zwischen Ost und West: Das Abendland, das damals die Welt mit seinem Kolonialismus überzog, sei von Materialismus geprägt, während der Orient die Wiege der Spiritualität sei. Damit greift er die ältere in Indien vorher schon vertretene Meinung auf, dass alle großen Religionsstifter (vgl. Buddha, Jesus, Mohammed) Orientalen gewesen seien und deshalb nicht das Materielle, sondern das Geistig-Geistliche gesucht hätten.

Intensiv beschäftigte sich Vivekananda mit dem Christentum, der Bibel und Jesus Christus. 1900 hielt er in Los Angeles den Vortrag Christ, the Messenger (Christus, der Bote), der bis heute als zentral für sein Christusverständnis überliefert wird.

Christus ist für Vivekananda wahrhaft Gott, denn in ihm war die Einheit von Gott und Mensch im Sinne des Advaita Vedanta vollkommene Realität. Der Swami bezieht sich dabei besonders auf das Wort Jesu „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30). Für ihn lädt Jesus die Menschheit dazu ein, ihm auf diesem spirituellen Weg zu folgen, bis alle Menschen diese Einheit begreifen und für sich wahrnehmen können. Jesus zeigt über verschiedene geistliche Stufen den Weg zum Göttlichen. Das Ziel drückt Jesus so aus: „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“

Allerdings – und das ist die hinduistische Einschränkung – war Jesus in diesem Sinne nicht einzigartig. Die vollkommene Einheit von Gott und Mensch lebten auch andere Figuren der Religionsgeschichte und sie ist letztlich das Ziel für jeden Menschen.

Bei Vivekananda wie bei seinem Vorgänger Rammohan Roy, der am 30. Oktober in der Nikolaikirche „zu Gast“ sein wird, fällt auf, dass der Hinduismus aus Jesu Worten nicht nur spirituelle Kraft und Erkenntnis zieht. Vivekananda war es wichtig, dass auch die Nächstenliebe und das soziale Engagement zum Leben in den Spuren Jesu und auf den Weg zum Göttlichen gehören. Als Begründung führte er in späteren Reden regelmäßig Jesu Wort „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ an.

Vivekananda starb 1902 im Alter von 39 Jahren nach vielen Vortragsreisen durch Indien und die westliche Welt, wohl auch an Erschöpfung. Er hat in seinen letzten Jahren eine weltweite Organisation aufgebaut, die Ramakrisha Math, die bis heute Bestand hat und sich der Meditation, inneren Einkehr und sozialer Arbeit widmet. Zentren gibt es auch in Deutschland.

Literatur: Christ, the Messenger (1900), Karl-Josef Kuschel: Leben ist Brückenschlagen (2011)

Swami Vivekananda, Christus, der Bote
(Christ, the Messenger, Los Angeles, 1900)

Da der Vortrag abgesehen von meiner eigenen Übersetzung urheberrechtsfrei ist, kann er hier auch als Text zur Verfügung gestellt werden. Vivekanandas Rede wurde von mir für die gottesdienstliche Vorlesung bearbeitet und gekürzt. Ziel war es auch, die Stellen, in denen Vivekananda neutestamentliche Zitate hervorhebt und interpretiert, herauszuarbeiten. Der Vortrag in seiner Gesamtheit ist deutlich länger und enthält noch mehr Aspekte.

Wenn sich eine Welle auf dem Ozean erhebt, senkt sie sich nachher wieder zu einem Tal. Und wieder eine andere Welle erhebt sich, vielleicht größer als die erste, um genauso wieder hernieder zu sinken, und sich dann wieder zu erheben – nach vorwärts drängend. Im Zuge der Geschichte erkennen wir Aufstieg und Fall, und wir konzentrieren uns normalerweise auf den Aufstieg, den Fall vergessend. Aber beide sind notwendig, und beide sind groß. Das ist die Natur des Universums. […]

Die Geschichte der Völker gleicht dem. Die große Seele, der Gottesbote, den wir heute Nachmittag betrachten, kam in einer Phase der Geschichte seines Volkes, die wir vielleicht als große Absenkung bezeichnen könnten.

Wir können nur wenige Reflexe erhaschen aus den verstreuten Nachrichten, die uns von seinen Worten und Taten überliefert sind – wahr ist, was gesagt wird, dass die Worte und Taten dieser Großen Seele „die Welt nicht fassen könnte“1, wenn sie alle aufgeschrieben wären. Aber die drei Jahre seines Dienstes waren wie ein komprimiertes, konzentriertes Zeitalter, das nun neunzehnhundert Jahre gebraucht hat, sich zu entfalten, und wer weiß, wie lange es noch anhält! Kleine Menschen wie du und ich sind nur Träger von winzigen Energiemengen. Ein paar Minuten, Stunden, Jahre, wenn es hoch kommt, genügen, um sie zu verbrauchen, zur höchsten Stufe auszustrecken, und dann sind wir für immer entschwunden. Aber schaut auf diesen Giganten, der dort gekommen ist; Jahrhunderte und Zeitalter vergehen, aber die Energie, die er der Welt hinterlassen hat, ist noch nicht erschöpft oder zur vollen Größe ausgestreckt. Sie sammelt neue Lebenskraft im Laufe der Zeitalter. […]

Eines müssen wir bedenken: Mein Blick auf den großen Propheten aus Nazareth kommt aus der Perspektive des Orients. Oft vergesst auch ihr, dass der Nazarener ein Orientale unter Orientalen gewesen ist. Trotz all eurer Versuche, ihn mit blauen Augen und blondem Haar vorzumalen, war der Nazarener immer noch ein Orientale. All die Vergleiche, die Bilder, in denen die Bibel geschrieben ist – die Szenen, die Örtlichkeiten, die Geisteshaltungen, die Poesie und die Symbole – sie alle sprechen zu euch vom Orient: vom strahlenden Himmel, der Hitze, der Sonne, der Wüste, von den dürstenden Menschen und Tieren, von Männern und Frauen, die mit Krügen auf dem Kopf zum Brunnen gehen, um sie zu füllen; von den Herden, den Ackerbauern und von der Landwirtschaft; von der Mühle und dem Rad, vom Mühlenteich und Mühlstein. Das alles kann man bis heute in Asien sehen. […]

So finden wir also Jesus von Nazareth zuallererst, als wahren Sohn des Orients, als vollkommenen Praktiker. Er glaubt nicht an diese flüchtige Welt und ihre Besitztümer. […] Der beste Kommentar zum Leben eines großen Lehrers ist seine eigene Lebensweise. „Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.“2 […]

Er hatte keine andere Beschäftigung im Leben, keinen anderen Gedanken als den, dass er Geist war. Er war körperloser, schrankenloser, ungebundener Geist. Aber nicht nur das! Denn mit seiner wundervollen Visionskraft hatte er erkannt, dass jeder Mann und jede Frau, ob Jude oder Heide, ob reich oder arm, ob Heiliger oder Sünder, eine Verkörperung desselben unsterblichen Geistes ist wie er selbst eine war. Lasst die abergläubischen Träume fahren, sagt er, dass ihr niedrig und arm seid! Denkt nicht, dass ihr Sklaven seid, niedergetrampelt und tyrannisiert, denn in euch ist etwas, was niemals tyrannisiert werden kann, was niemals niedergetrampelt werden kann, niemals beunruhigt, niemals getötet werden kann. Ihr seid alle Söhne Gottes, des unsterblichen Geistes. „Sehet“, erklärte er „das Königreich der Himmel ist inwendig in euch.“3 „Ich und der Vater sind eins.“4

Wagt ihr es, aufzustehen und das zu sagen? Nicht nur „ich bin ein Kind Gottes“, sondern auch „Ich finde in meinem tiefsten Herzen, dass der Vater und ich eins sind“? Das ist, was Jesus von Nazareth gelehrt hat. Er spricht niemals von dieser Welt und diesem Leben. Er hat damit nichts zu tun, außer dass er die Welt, so wie sie ist, ergreifen möchte und ihr einen Stoß geben und sie vorwärts treiben, bis die ganze Welt das strahlende Licht Gottes erreicht hat, bis jeder und jede die eigene spirituelle Natur ergriffen hat, bis der Tod ausgelöscht und das Elend verbannt ist.

Wir kennen die verschiedenen Geschichten, die über ihn geschrieben wurden. Wir kennen die Theologen und ihre Schriften und die historische Kritik, wir wissen alles, was da studiert wurde. Wir sind aber nicht hier, um darüber zu diskutieren, wie viel vom Neuen Testament wahr ist, oder darüber zu debattieren, wie viel von diesem Leben historisch ist. […] Es muss einen Kern gegeben haben, eine gewaltige Kraft, die herabgekommen ist, eine wundervolle Erscheinung spiritueller Kraft – und von dieser sprechen wir. Sie ist da. Und deshalb haben wir keine Angst vor der Kritik der Wissenschaftler.

Wenn ich, als Orientale, Jesus von Nazareth verehren soll, dann gibt es für mich nur eine Art, nämlich ihn als Gott zu verehren, und nichts sonst. […] Wenn wir ihn auf unsere Stufe herabholten und ihm ein wenig Respekt zollten als einem großen Mann, warum sollten wir dann überhaupt verehren? Unsere Schriften sagen: „Jene großen Kinder des Lichts, die das Licht selbst offenbaren, die selbst Licht sind, sie werden, wenn sie angebetet werden, eins mit uns und wir werden eins mit ihnen.“

Wisst ihr: Der Mensch nimmt Gott auf drei Wegen wahr. Als erstes sieht der unentwickelte Geist des ungebildeten Menschen Gott weit weg, irgendwo oben im Himmel, auf einem Thron sitzen als großen Richter. Er begreift ihn als Feuer, als Schrecken. Nun, das ist gut, und es gibt darin nichts Schlechtes. Ihr müsst daran denken, dass die Menschheit nicht von Irrtum zu Wahrheit schreitet, sondern von Wahrheit zu Wahrheit. Wenn es euch besser gefällt, könnte man auch sagen, dass sie von niedriger zu höherer Wahrheit schreitet, aber niemals vom Irrtum zur Wahrheit. Stellt euch vor, ihr startet hier und reist zur Sonne auf gerader Linie. Von hier aus sieht die Sonne sehr klein aus. Nach einer Million Meilen wird die Sonne viel größer sein. Auf jeder Stufe wird die Sonne größer und größer. Wenn zwanzigtausend Photographien von der Sonne gemacht würden, von verschiedenen Punkten aus, dann würden diese zwanzigtausend Photographien sicherlich alle voneinander verschieden sein. Aber könntet ihr behaupten, dass nicht jede eine Photographie derselben Sonne sei? So sind alle Formen der Religion, hoch oder niedrig, unterschiedliche Stufen hin zu dem ewigen Stand des Lichts, der Gott selbst ist. Manche enthalten eine niedrigere Anschauung, andere eine höhere, und das ist der ganze Unterschied.

Also müssen und mussten schon immer die Religionen des einfachen Volkes in der ganzen Welt von einem Gott erzählen, der außerhalb der Welt ist, der im Himmel lebt, der von dort aus regiert und die Bösen bestraft und die Guten belohnt usw.

Als der Mensch sich geistlich entwickelte, begann er zu fühlen, dass Gott allgegenwärtig sei, dass Er in ihm sei, und dass Er überall sein müsse, dass Er nicht ein ferner Gott sei, sondern innig geliebt als die Seele aller Seelen. So wie meine Seele meinen Körper bewegt, so ist Gott der Beweger meiner Seele. Seele in Seele.

Und einige wenige Einzelne, die sich weit genug entwickelt hatten und rein genug waren, sind noch weiter gegangen und sie haben endlich Gott gefunden. Wie das Neue Testament sagt: „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“5 Und sie haben am Ende erkannt, dass sie mit dem Vater eins sind.

Alle diese drei Stufen werden vom Großen Lehrer im Neuen Testament gelehrt. Schau auf das Vaterunser, das er gelehrt hat: „Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name,“ usw. – ein einfaches Gebet, ein Kindergebet. Man nennt es auf Englisch auch auch das common prayer, also das allgemeine Gebet, denn es ist für das einfache Volk gedacht.

Einem engeren Zirkel, der schon etwas fortgeschritten war, gab er eine erhabenere Lehre: „Ich bin in meinem Vater, und ihr seid in mir, und ich in euch.“6 Erinnert ihr euch?

Und dann, als die Juden ihn fragten, wer er sei, erklärte er, dass er und sein Vater eins seien, und die Juden hielten es für Gotteslästerung. Was hat er damit gemeint? [Er sagte ihnen:] Dasselbe haben auch eure alten Propheten erzählt: „Ihr seid Götter und alle von euch sind Kinder des Höchsten.“7 Achtet auf die drei Stufen. Ihr werdet erkennen, dass es am einfachsten ist, mit der niedrigsten zu beginnen und mit der höchsten abzuschließen.

Der Bote kam, um den Pfad zu zeigen: Dass der Geist nicht in äußeren Formen steckt, und dass man ihn durch alle Plackereien und Verknotungen der Philosophie nicht zu erkennen vermag. Am besten ist es, keinerlei Gelehrsamkeit zu haben, am besten, kein einziges Buch im Leben gelesen zu haben. Das alles braucht es nicht zum Heil – auch nicht Reichtum, Stand oder Macht, nicht einmal Gelehrsamkeit; aber was nötig ist, ist eine Sache: Reinheit. „Selig sind die reinen Herzens sind“, denn der Geist in seiner eigenen Natur ist rein. Wie könnte es anders sein? Er ist von Gott, er ist von Gott gekommen. In der Sprache der Bibel: „Er ist der Odem Gottes.“ In der Sprache des Koran: „Er ist die Seele Gottes.“

Meint ihr, der Geist Gottes könne je unrein sein? Aber doch, er war es, tatsächlich, bedeckt mit dem Schmutz und Staub der Jahrhunderte, durch unsere eigenen Handlungen, gute und böse. Verschiedenste Werke, die falsch waren, die nicht wahrhaftig waren, haben denselben Geist mit dem Staub und dem Schmutz der Zeitalter bedeckt.

Man muss den Staub und den Schmutz nur davonwischen, und der Geist scheint mit einem Mal. „Selig sind die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“ „Das Königreich der Himmel ist inwendig in euch.“ Wohin geht ihr, das Reich Gottes zu suchen, fragt Jesus von Nazareth, wenn es doch hier ist, inwendig in euch? Reinigt den Geist, und es ist da. Es gehört euch schon. Wie könnt ihr erlangen, was nicht euer ist? Es ist von Rechts wegen euer. Ihr seid die Erben der Unsterblichkeit, Söhne des Ewigen Vaters. […]

Bei all unseren Fehlern, bei all unseren bösen Gedanken und Taten, gibt es dennoch irgendwo einen leuchtenden Punkt, gibt es doch irgendwo den goldenen Faden, mit dem wir stets in Verbindung mit dem Göttlichen stehen. […] Wie niedrig und gedemütigt wir auch immer sein mögen, irgendwo in unserem Herzen ist immer ein kleiner Lichtkreis, der in steter Verbindung zum Göttlichen steht. […]

So wollen wir uns verbeugen vor den Propheten der Vergangenheit, deren Leben und Lehren wir geerbt haben, vor den gottgleichen Männern und Frauen, die heute der Menschheit helfen, welcher Herkunft, Hautfarbe oder Religion sie sein mögen, und vor denen, die in der Zukunft kommen – lebende Götter – und unseren Nachkommen beistehen.

Quelle: Wikisource.org
Übersetzung und Bearbeitung: Armin Pöhlmann.

Bibelstellen: 1Joh 21,25. 2Mt 8,20; Lk 9,58. 3Lk 17,21. 4Joh 10,30. 5Mt 5,8. 6Joh 14,20. 7Joh 10,22-39.

Gespräch nach dem Gottesdienst und Nachgedanken

Der Kathak-Yoga-Tanz wirkte in den Gesprächen nach.

Schön war es, nach dem Gottesdienst noch draußen im Mutterhausgarten zu sitzen. Dirk Bärenklau hatte indischen Tee im Glühweinkessel angesetzt, und wir haben noch eine lange Zeit miteinander verbracht. Die Eindrücke des Gottesdienstes wirkten vor allem durch den Tanz und den Tee noch nach. Wir redeten über das Vaterunser, das wir gemeinsam mit Anna Kretschmer mit Gesten gebetet hatten, und über die Kunst, jedes Fingerglied einzeln und ausdrucksvoll zu bewegen.

Für Vivekanandas Jesus-Vortrag gilt etwas, was für die interreligiöse Gottesdienstreihe überhaupt gilt, aber vielleicht bei ihm besonders: Als Christen sollten wir nicht darauf achten, was „fehlt“, sondern was er entdeckt hat. Natürlich könnte man sich beschweren, dass unsere lutherischen Lieblingsthemen Kreuz, Sünde und Leiden nicht vorkommen und dass sein Jesus schon fast den Eindruck erweckt, über den den Dingen zu schweben. Aber was hat Vivekananda gefunden?

„Das Reich Gottes ist inwendig in euch.“ So hat es noch Luther übersetzt, der auch stark mystisch orientiert und geprägt war – in unserer heutigen Übersetzung finden wir: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Beides ist als Übersetzung möglich, und der, der die eine oder andere Option wählt, trifft eine Entscheidung. Wir möchten gerne, dass das Reich Gottes in unserer Kirche ist und in unserer Gemeinde, und hoffen auf das „mitten unter euch“. Vivekananda und die Mystiker und Meditierenden aller Zeiten und Orte suchen das Reich Gottes tief im eigenen Inneren, um dort Gott zu begegnen. Fehlt uns das, die wir immer dabei sind, Gemeinde zu organisieren und die wir ängstlich auf Mitgliederzahlen schauen?

Ein anderer interessanter Aspekt mag auch der Vergleich sein. Adele Reinhartz ist mit dem Johannesevangelium hart ins Gericht gegangen, auch wenn sie vom Vierten Evangelisten fasziniert ist. Sein Reden vom „ewigen Leben“ und ähnlichen Kernaussagen kann sie intellektuell begreifen, es hat dennoch keinen Reiz für sie:

Johannes macht eine grundlegende Behauptung: Dass der Glaube an Jesus als den Messias, den Sohn Gottes, der Weg zum ewigen Leben sei. Diese Behauptung jedoch basiert auf einer stillschweigenden Voraussetzung, nämlich dass die Furcht vor dem Tod und die Sehnsucht nach dem ewigen Leben ein universale menschliche Eigenschaft sei in allen Kulturen und Zeitaltern.

Adele Reinhartz, Cast out of the Covenant (übersetzt von mir)

Ein Hindu wie Vivekananda konzentriert sich genau auf solche Aspekte der Botschaft Jesu, während er am historischen Gehalt und der Entstehungsgeschichte der Evangelien überhaupt kein Interesse hat. Die Suche nach dem Reich Gottes und dem ewigen Leben in Gott, in Christus und in mir ist selbstverständlich.

Das Audiomaterial

Wie auch bei den anderen Gottesdiensten gibt es hier die Evangeliumslesung und den Vortrag, die eine gelesen von mir, der andere von Gabriele Phieler vorzüglich vorgetragen. Der ganze Gottesdienst kann bei mir nachgefragt werden.

Joh 14,5-12 (Armin Pöhlmann)
Vivekananda – Christus der Bote (Gabriele Phieler)